Ende Januar – und jedes Jahr das gleiche Spiel: Artikel folgt auf Artikel, Influenza-Meldung auf Influenza-Meldung. Das suggeriert: Etwas, das so weit verbreitet ist, ist gut bekannt und gut erforscht. Dem ist aber nicht so: Das meiste, was über die jährliche Grippe verkündet wird, basiert auf Annahmen. Wohl gemerkt Annahmen, die sich so in der Praxis bestätigt zu haben scheinen. Zweifelsfrei wissenschaftlich belegt ist aber kaum eine davon.
Was vor der Grippe schützt – oder nicht
Punkt 1: Ausbreitung der Grippeviren
Zur Ausbreitung der Grippeviren gibt es verschiedene Theorien. Denn rund um den Globus betrachtet, sind die Grippeviren immer da. Eine Theorie: Die Viren zirkulieren in trockenen, kühlen Regionen in Ostasien. Dort fühlen sie sich am wohlsten. Und weil dort sehr viele Menschen oft auf sehr engem Raum leben, können sich die Viren gut verbreiten.
Durch Globalisierung und Tourismus werden die Viren beispielsweise auch nach Europa eingeschleppt. Im Sommer scheinen sie sich in unseren Breiten aufgrund der herrschenden klimatischen Verhältnisse nicht wohl zu fühlen und verbreiten sich deshalb nicht.
Anders sieht es im Herbst und Winter aus: Niedrigere Temperaturen und trockenere Luft scheinen den Viren einerseits besser zu behagen – andererseits hat die Bevölkerung der Virenattacke auch weniger entgegenzusetzen. «Trockenere Luft macht unsere Schleimhäute anfälliger für Erreger», sagt Stefan Kuster, Infektiologe und Spitalhygieniker am Universitätsspital Zürich. «So ganz genau weiss man das aber nicht.»
Punkt 2: Ansteckung über die Luft
Morgens in der S-Bahn, alles niest und hustet: Eine Infektion über die Luft gilt als Tatsache – ist so aber noch nicht belegt. Beobachtungen machen diesen Ansteckungsweg aber sehr wahrscheinlich. «Wenn Ihnen jemand gegenübersitzt und Ihnen in der akuten Grippephase ins Gesicht niest, so dass Sie einen Schwall direkt auf alle Schleimhäute abbekommen, dann ist die Chance ziemlich gross, dass Sie sich anstecken. Aber im Tram ist das wohl eher unwahrscheinlich», sagt Stefan Kuster.
Faktoren wie räumliche Nähe zur erkrankten Person fallen dabei wahrscheinlich ins Gewicht, aber auch, wie der Luftstrom ist, und wie lange man der grippekranken Person ausgesetzt ist. Das nachzuweisen hiesse, eine gesunde Person einer erkrankten gegenüberzusetzen und in Kauf zu nehmen, dass sie sich ansteckt – ethisch nicht vertretbar.
Punkt 3: Ab wann ist man ansteckend?
Auch das ist nicht belegt. Man geht davon aus, dass Patienten bereits in den 24 Stunden, bevor es zu Symptomen kommt, ansteckend sind. Aber in welchen Mass, ist unklar. Immerhin gibt es Messungen, die Rückschlüsse erlauben: Am Universitätsspital Basel konnten im Labor bis zu einer Million Grippeviren pro Milliliter Nasensekret gemessen werden. Und dabei hat sich auch abgezeichnet, dass Patienten sicher bis zu 24 Stunden vor Ausbruch der Erkrankung schon ansteckend sind – wahrscheinlich aber nicht in dem Mass wie in den ersten Tagen nach Ausbruch der Erkrankung.
Ab etwa dem vierten Tag nimmt die Virenlast ab.
«Am Anfang der Grippeerkrankung ist man maximal infektiös. Ab etwa dem vierten Tag nimmt die Virenlast ab. Es ist dann gut möglich, dass man zwar noch hustet und sich noch nicht ganz gesund fühlt, aber keine Viren mehr ausscheidet und nicht mehr ansteckend ist», sagt Stefan Kuster.
Punkt 4: Die Grippe erwischt vor allem Ältere
Es zirkulieren stets Influenzaviren des A- und des B-Stammes. Die A-Stämme scheinen die aggressiveren zu sein, warum, ist noch unklar. Ebenfalls nicht klar ist, warum manche Viren den Sprung über den grossen Teich schaffen und andere nicht.
Prognosen für Europa basieren darauf, welche Viren im Winter auf der Südhalbkugel aktiv waren. Australien beispielsweise hat eine heftige Grippesaison hinter sich, besonders H3N2 des A-Stamms griff um sich – dieser sorgt aber in Europa nicht für die diesjährigen Grippefälle, sondern das Yamagata-Virus des weniger aggressiven B-Stamms.
H3N2 wiederum ist ein Virustyp, der gerade Älteren Probleme bereitet. Denn die stärkste Immunität baut der Mensch gegen den Virustyp auf, mit dem er sich als erstes, meist schon im Kindesalter, infiziert hat. Zwischen 1918 und 1968 haben sich aber keine H3N2-Viren verbreitet. In der Folge sind Menschen, die vor 1968 geboren wurden, auch anfälliger für H3N2 – eben weil sie keine Immunität aufbauen konnten. Und deshalb sterben in Jahren mit besonders starker H3N2-Verbreitung auch besonders viele Ältere.
Unterm Strich jedoch erkranken Kinder häufiger als Erwachsene, weil sich ihr Immunsystem noch im Training befindet. «Und Kinder scheiden mehr Viren aus als Erwachsene: Sie haben die höhere Virenzahl im Speichel und in den Atemwegssekreten. Zudem haben sie über Speichel und Schnodder auch nicht die gleich gute hygienische Kontrolle wie Erwachsene und verteilen die Viren stärker auf Oberflächen und Mitmenschen», sagt Stefan Kuster.
Punkt 5: Überleben der Viren
Gewarnt wird vor Knöpfen, Haltestangen und Co., die von vielen Menschen benützt werden. Doch wie wahrscheinlich es ist, dass sich Personen über diesen Weg anstecken, ist schwer zu sagen. Es lassen sich zwar Grippeviren auf Oberflächen nachweisen – aber ob sie noch leben oder bereits nicht mehr aktiv sind, ist schwer zu sagen – und auch, ob die Konzentration für eine Infektion ausreichen würde. Hinzu kommt: Auf den Händen richten die Viren noch keinen Schaden an. Dazu müssen sie erst den Weg in Mund, Nase oder Augen finden.