Zum Inhalt springen

Kinderlähmung Polio-Fälle im Ausland – was das für die Schweiz bedeutet

Die Kinderlähmung schien fast verschwunden. Nun gibt es einzelne Fälle in New York und Israel. New York hat wegen der Krankheit sogar den Notstand ausgerufen, in Grossbritannien wird eine Auffrischimpfung empfohlen. Eine Einordnung.

Polio ist eine Krankheit mit starken Bildern: Kinder, die in eisernen Lungen stecken, weil ihre Atmung versagt. Kinder, die fürs Leben mit Lähmungen gezeichnet sind, selbst wenn sie die heikle Phase überleben.

Bilder der Vergangenheit

Es sind Bilder aus den 1950er- und 1960er-Jahren. Sie sind jahrzehntealt, und doch tragen sie wohl bis heute mit dazu bei, dass um die 95 Prozent kleiner Kinder in der Schweiz vollständig gegen Polio geimpft sind. Wie in der Schweiz konnte die Impfung auch in anderen Ländern die Virus-Erkrankung weitgehend eindämmen. Meldungen von einem gelähmten Mädchen in Israel und einem gelähmten jungen Mann in New York lassen jetzt aufhorchen.

Verbreitung im Abwasser nachgewiesen

Box aufklappen Box zuklappen

Auf jeden Verlauf mit Lähmung kommen mehrere Hundert Ansteckungen, die unbemerkt verlaufen. Nur 0.1 bis ein Prozent der Infizierten leiden an einer Lähmung. Das heisst: Es kommen deutlich mehr Menschen in Kontakt mit dem Polio-Virus, als diese einzelnen, schweren Fälle, über die berichtet wird. Dazu passt auch der Nachweis des Virus im Abwasser in New York, in Israel und auch in London. Das Virus ist in den betroffenen Regionen so verbreitet, dass der Nachweis im Abwasser möglich wird.

Beide Fälle haben eines gemeinsam: Die Betroffenen sind nicht geimpft. Zudem sind um sie herum jeweils relativ viele Menschen ebenfalls nicht geimpft, teils unter 40 Prozent.

New York erklärt Notstand

Diese Konstellation erklärt die recht scharfe Reaktion in New York, wo eine Art Notstand ausgerufen wurde. So werden Gelder frei, um schnell und viel zu impfen und aufzuklären: Denn zirkuliert das Virus ungebremst weiter, kann es in einer schlecht geschützten Bevölkerung schnell grossen Schaden anrichten.

Auffallend ist zudem: Betroffen sind in New York und in Israel jüdisch-orthodoxe Gemeinden, die Impfungen gegenüber grundsätzlich skeptisch eingestellt sind.

Was bedeutet diese Entwicklung für die Schweiz? Wie gefährlich ist sie? Klar ist: In der Schweiz ist die Impfrate sehr hoch. «Sie könnte aber noch höher sein», so die Infektiologin Annelies Zinkernagel von der Universität Zürich. Rund fünf Prozent der kleineren Kinder sind nicht ausreichend gegen Polio geimpft. Sobald das Virus auch in der Schweiz wieder auftaucht, sind diese dem Risiko einer Ansteckung ausgesetzt.

Besonderheit Impfstoff: wenig Herdenschutz

Denn es kommt eine Besonderheit der Polio-Impfung zum Tragen: Menschen, die mit dem in der Schweiz verwendeten Totimpfstoff geimpft wurden, können sich weiterhin mit dem Virus anstecken und das Virus weitergeben. Sie werden aber nicht krank. Das heisst für die Gruppe der Nichtgeimpften: Sie sind nicht wirklich durch einen Herdenschutz geschützt, der die Zirkulation des Virus bremsen würde.

Und: Eines ist heute gleich wie bei den Ausbrüchen in den 1950er- und 1960er-Jahren: Es gibt keine Therapie gegen Polio.

Rendez-vous, 20.09.2022, 12:30 Uhr

Meistgelesene Artikel