Die kleine Tochter kommt aus dem Wald mit einer Zecke am Bauch nach Hause. Ab in den Notfall mit dem Kind?
Die Gesundheitssendung «Puls» hat in einem grossen Schweizer Shopping-Center einen Gesundheitstest durchgeführt und unter anderem auch diese Frage gestellt. Und nicht wenige Teilnehmerinnen und Teilnehmer antworteten darauf mit einem überzeugten «Ja».
Auch die Frage nach dem Schwellenwert, über dem erhöhte Körpertemperatur zu Fieber wird, stellte viele vor Probleme. Und ging es darum, menschliche Organe zu erkennen und in einem Modell anatomisch richtig zu platzieren, waren manche endgültig überfordert. Da landete die Leber schon mal irgendwo in der Leistengegend.
Der Eindruck des kleinen Feldversuchs bestätigt die Ergebnisse einer Studie im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit BAG : Nur 46 Prozent der Schweizer Bevölkerung verfügt über eine wenigstens ausreichende Gesundheitskompetenz. Nicht einmal die Hälfte aller Menschen in der Schweiz ist also in der Lage, im Alltag Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken.
Dafür gibt es viele Gründe. Zum Beispiel, dass 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung eine Leseschwäche hat. «Wir müssen davon ausgehen, dass diese Menschen häufig nicht verstehen, was man ihnen sagt oder was man ihnen zu lesen gibt», erklärt Julia Dratva, Wissenschaftlerin und Public-Health-Expertin an der ZHAW.
Ähnliches gilt für Einwohner mit einer anderen Muttersprache. «Niedrige Schulbildung und geringer sozialer Status sind ebenfalls wichtige Faktoren», ergänzt sie.
Für diese Bevölkerungsgruppen – und nicht nur für sie – ist da auch das Internet mit seiner Fülle an medizinischen Informationen keine Hilfe. Beim «Puls»-Ortstermin in Spreitenbach wurde es jedenfalls kaum in Anspruch genommen.
Tenor: «Nach dem Googeln ist man doch kränker als zuvor.»
Die Vorbehalte dem Internet gegenüber kann Julia Dratva gut nachvollziehen: «Jede Suche liefert eine Unzahl von Webseiten.» Die richtigen herauszusuchen und ihren Inhalt zu verstehen, einzuordnen und einzuschätzen ist kein einfaches Unterfangen.
Ein amtliches Gütesiegel könnte da helfen. Davon ist man in der Schweiz aber noch weit entfernt. Entsprechende Projekte sind zwar am Laufen, doch anders als in Deutschland wird Mitte 2020 sicher kein zentrales Gesundheitsportal mit verlässlichen Informationen online gehen.
Bei der Jugend ansetzen
Was hingegen bereits läuft und Früchte trägt: Initiativen, die Jugendlichen praktisches Wissen in lebensrettenden Techniken vermitteln.
Im Tessin wurden im Rahmen eines Pilotprojekts fünf Jahre lang alle 14- und 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in Reanimation ausgebildet – jedes Jahr 3500 Jugendliche. Mit durchschlagendem Erfolg: Die Überlebenschance nach einem Herzstillstand ist mit 55 Prozent die höchste in der ganzen Schweiz.
Und es sind keineswegs nur wildfremde Menschen, die davon profitieren: «Letzten Sommer hatten wir den Fall eines Jungen, der im Juni den Kurs in seiner Schule besuchte», erinnert sich Claudio Benvenuti, Direktor der Stiftung «Ticino Cuore». Im August erlitt die Mutter des Jungen einen Herzstillstand. «Der Sohn hat seine Mutter reanimiert, bis die Rettungskräfte eintrafen. Das zeigt, dass Jugendliche genauso gut reanimieren können wie Erwachsene!»
Heute gibt es eine Empfehlung der Tessiner Erziehungsdirektion, solche Kurse in Schulen abzuhalten. So werden derzeit immer noch jedes Jahr rund 2500 Jugendliche in Wiederbelebung ausgebildet.
Föderalismus bremst die Gesundheitskompetenz
Auch nördlich der Alpen tut sich diesbezüglich einiges. Zum Beispiel im Kanton Baselland, wo die Stiftung «Ersthelfer Nordwestschweiz» interessierte Schulen mit Schulungsmaterial versorgt und die Wiederbelebung zum Pflichtfach erheben will.
Der Gedanke dahinter: «Möglichst viele Bürgerinnen und Bürger sollen möglichst früh die Massnahmen bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand kennenlernen», sagt Wolfgang Ummenhofer, Vizepräsident der Stiftung.
Der Nutzen dieses Bestrebens leuchtet ein: «Aktuell liegt die Überlebensschance in der Nordwestschweiz bei gerade mal 10 bis 20 Prozent», weiss Geschäftsführerin Céline Marchon. «Mit einer flächendeckenden Ausbildung von Ersthelfern in den Schulen und weiteren Laienhelfern liessen sich 50 bis 60 Prozent erreichen.»
Bloss macht der Schweizer Föderalismus diesen Bestrebungen bislang einen Strich durch die Rechnung: Alle Versuche, solche Kurse auf nationaler Ebene als Pflicht-Schulstoff einzuführen, sind gescheitert.
Von «Puls» darauf angesprochen, schreibt die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren: «Für eine flächendeckende Einführung solcher Kurse bräuchte es in erster Linie politische Entscheide in den Kantonen, durch welche diese Kurse für obligatorisch erklärt würden.»
So werden Stiftungen wie die «Ersthelfer Nordwestschweiz» nun eben auf regionaler Ebene aktiv. Der Antrag für eine Aufnahme der Kurse in den Lehrplan ist bei der Bildungsdirektion des Kantons Baselland bereits deponiert.
Und in der Zwischenzeit versucht man weiterhin, so viele Schulen wie möglich zur freiwilligen Teilnahme zu bewegen.
Puls, 10.02.2020, 21:05 Uhr