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Medizinisches Mysterium Seitenstechen – das ungeklärte Sportphänomen

Kaum losgejoggt und schon kommt dieser lästige, stechende Schmerz unterhalb des Brustkorbs. Aber warum entsteht Seitenstechen? Darüber rätselt die Wissenschaft bis heute.

Die meisten kennen es: Seitenstechen. Dieses fiese Ziehen und Stechen unterhalb des Brustkorbs kann beim Sporttreiben beidseitig oder nur auf einer Seite auftauchen. Vielleicht hat es Ihnen auch schon die schöne Joggingrunde durch den Wald verdorben. Denn Läuferinnen und Läufer sind am meisten davon betroffen. Aber auch beim Schwimmen oder Reiten können die Schmerzen auftreten, wie Studien zeigen . Velofahrerinnen und Velofahrer berichten hingegen weniger davon.

Mythos zu Sportarten mit gebeugter Position

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Radfahrer auf der Strasse in bergiger Landschaft.
Legende: Keystone / Christian Beutler

Eine Annahme besagt, dass Sportarten wie Velofahren, die eine krumme oder gebeugte Haltung erfordern, Seitenstechen begünstigen. Wenn man bei diesen Sportarten eine «schlechte Haltung» einnehme, beispielsweise wegen mangelnder Rumpfstabilität, führe das zu Beschwerden, so die These.

Aus diesem Grund wird gelegentlich empfohlen, die Rumpfmuskulatur zu stärken oder den Brustkorb aufzurichten. Laut der Sportmedizinerin Nora Wieloch gibt es keine überzeugenden wissenschaftlichen Belege dafür, dass diese Massnahmen wirksam sind.

Untersuchungen zeigen gar das Gegenteil: Seitenstechen tritt häufiger bei Sportarten auf, die in aufrechter Position ausgeübt werden. Also beispielsweise Joggen oder Reiten. Wieloch zweifelt deshalb daran, dass die Schmerzen von der sportartbedingten gebeugten Haltung herrühren. Betroffene berichten sogar, dass sich die Beschwerden verbessern, wenn sie sich nach vorne beugen.

Etwas anderes sind individuelle anatomische Unterschiede. Wer beispielsweise seit Geburt eine starke Krümmung der Wirbelsäule hat, ist prädestiniert für Seitenstechen – unabhängig von der Sportart .

Wie das lästige Stechen verursacht wird, darüber rätselt die Wissenschaft bis heute. Die Schmerzen treten spontan auf, und verschwinden grösstenteils rasch wieder. Das macht es schwierig, sie im Labor zu reproduzieren und zu untersuchen. Über die Ursachen des Phänomens gibt es also nur Hypothesen. «Die einen sind plausibler als die anderen», ordnet Nora Wieloch, Sportmedizinerin an der Universitätsklinik Balgrist, ein.

Einblick in verschiedene Erklärungsansätze

Wenn wir Sport treiben, gelangt mehr sauerstoffreiches Blut zu den Muskeln. Das hat zur Folge, dass andere Organe schlechter durchblutet sind. Eine der Thesen besagt, dass deswegen unser wichtigster Atemmuskel, das Zwerchfell, nicht genügend Sauerstoff bekommt und sich verkrampft. Die Folge: Seitenstechen.

Die Sportärztin hält einen anderen Ansatz aber für wahrscheinlicher: die Bauchfell-Theorie. Das Bauchfell liegt unter der Bauchmuskulatur und kleidet die Bauchhöhle aus. Zudem enthält es zahlreiche Nerven und Blutgefässe. «Sportliche Anstrengung und Erschütterungen können das Bauchfellgewebe irritieren, was Schmerzen auslöst», erklärt sie. Diese Erklärung wird in der Wissenschaft am ehesten akzeptiert.

Was bei akuten Beschwerden hilft

Auch die veränderte Atmung während des Sports könne zu vorübergehenden Bauchschmerzen führen, so eine verbreitete Annahme. Denn wer intensiv Sport treibt, atmet flacher. Das kann zur Folge haben, dass Muskeln nicht genug Sauerstoff bekommen und ermüden, weshalb Krämpfe und Seitenstechen entstehen können, so die These. «Das ist wissenschaftlich nicht belegt», betont die Sportmedizinerin. Dennoch berichten Betroffene, dass tiefe Atemzüge bei akuten Beschwerden helfen. Warum das so ist, bleibt ein Rätsel.

Wer ist am häufigsten betroffen?

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Seitenstechen kann prinzipiell jeden treffen, auch professionelle Athletinnen und Athleten sind nicht davor gefeit. Es scheint aber, dass untrainierte Personen häufiger darunter leiden. Wie Seitenstechen mit dem eigenen Trainingszustand zusammenhängt, sei aus wissenschaftlicher Sicht nicht abschliessend geklärt, wendet die Sportärztin Nora Wieloch ein.

Darüber hinaus erleben Kinder und Jugendliche häufiger Seitenstechen als Erwachsene. Aber: «Das könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass Kinder sich intensiver und häufiger bewegen als Erwachsene.»

Zudem nimmt das lästige Stechen ab, wenn die Trainingsintensität reduziert wird. «Oder man unterbricht das Training. Das scheint die wirksamste Massnahme zu sein», so Wieloch. Ist die Lösung bei immer wieder auftretendem Seitenstechen also Sportverzicht? Die Sportärztin plädiert stark dafür, sich wegen des Seitenstechens nicht generell von Bewegung abhalten zu lassen. Allenfalls sei einen Umstieg auf eine andere Sportart eine Option. Und: «Gefährlich ist Seitenstechen nicht.»

Tipps zur Prävention

Um bei der nächsten Joggingrunde Seitenstechen zu vermeiden, gibt Wieloch einen Ernährungstipp an die Hand. Ungefähr zwei Stunden vor dem Sport keine grossen Mahlzeiten vertilgen. Auch auf hypertone, also zuckerhaltige Getränke wie Limonaden oder Fruchtsäfte gilt es, zu verzichten.

Allerdings räumt die Ärztin ein: «All diese Empfehlungen basieren eher auf Erfahrungsberichten als auf experimentellen Studien.» So bleibt es wichtig, seinen Körper zu spüren und individuell herauszufinden, was wirklich nützt.

Ratgeber SRF 1, 16.05.2024, 11:10 Uhr

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