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Modell mit Zukunft Peer-Coaches: Lebenshilfe auf Augenhöhe

Betroffene helfen Betroffenen. Das System hat sich im Gesundheitswesen bewährt – und noch viel ungenutztes Potenzial.

Wer Kranken oder Verunfallten mit gut gemeinten Ratschlägen kommt, stösst damit oft auf wenig Gegenliebe: «Woher willst Du denn wissen, wie sich das für mich anfühlt!», zählt noch zu den harmloseren Reaktionen.

Auch Ärztinnen und Ärzte kennen das Gefühl, nicht als Gegenüber auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden. Zwar verfügen sie über grosses medizinisches Wissen – die Situation ihrer Patientinnen und Patienten kennen sie aber nur in den seltensten Fällen aus eigener Erfahrung.

Wer nicht im Rollstuhl sitzt, kann nicht 100-prozentig nachfühlen, was in mir vorgeht.
Autor: Angelina Pfister

Giordi Bianda weiss, wie der Alltag im Rollstuhl ist. Und sie kennt die Gänge des Paraplegikerzentrums Nottwil. Vor 30 Jahren kam sie als Patientin hierher, heute ist es ihr Arbeitsplatz. Als Expertin aus Erfahrung – neudeutsch: Peer – unterstützt sie neue Patientinnen wie Angelina Pfister.

Angelina Pfister ist seit drei Monaten im Rollstuhl. Sie muss noch viel lernen, bis sie im Alltag selbstständig funktionieren kann und ist dankbar für jeden Tipp. «Giordi sitzt schon länger im Rollstuhl und kann nachfühlen, wenn ich irgendein Problem habe.» Jemand, der nicht an den Rollstuhl gebunden sei, könne hingegen nie wirklich nachvollziehen, wie es ihr gerade gehe.

Das Peer-Modell in Nottwil hat eine lange Tradition. Initiiert wurde es von Therese Kämpfer, die seit 1980 Tetraplegikerin ist. Vor 25 Jahren hatte sie einen Teilzeitjob im Paraplegikerzentrum und machte Umfragen zur Patientenzufriedenheit. Immer häufiger fand sie sich dabei selbst in der Rolle der Befragten wieder. «Als erfahrene Rollstuhlfahrerin wurde ich zu den verschiedensten Sachen ausgefragt. Wo ich Kleider einkaufen gehe, wie ich in ein Flugzeug käme – überhaupt, wie es mit dem Reisen geht.»

Mit der Zeit wurde sie dann auch von den Profis in Anspruch genommen: «Pflege, Physio oder Psychologie haben mich zu immer mehr Patientinnen und Patienten geschickt, die Fragen hatten, traurig waren oder denen es an Motivation fehlte.» Am Ende habe sie fast nur noch dies getan, statt der Arbeit, für die sie eigentlich angestellt wurde.

Aus diesen Erfahrungen entwickelte Therese Kämpfer das Modell «Behinderte helfen Behinderten», das heutige Peer-Modell. Dabei lernte sie auch, welche Fehler Peers machen können. Zum Beispiel im Umgang mit den Professionals. «Als Peer muss man sich abgrenzen können. Wenn zum Beispiel immer wieder die Vergangenheit und Kindheit zur Sprache kommt, braucht es vielleicht wirklich eine psychologische Therapie. Und dafür bin ich als Peer-Coach nicht ausgebildet.»

Heute arbeiten elf Peers in Nottwil eng mit dem medizinischen Fachpersonal zusammen. Sie sind Teil des Teams und für verschiedene Krankheitsbilder im Einsatz. Entsprechend wichtig ist der Austausch untereinander. Speziell geschult sind die Peers aber nicht.

Das hat schon Therese Kämpfer so erlebt: «Es hat damals schon gereicht, betroffen zu sein, um quasi auf die Frischverletzten losgelassen zu werden. Da habe ich mir so oft gewünscht, eine Ausbildung zu haben in Sachen Selbstreflexion, Gesprächsführung oder Motivation ohne Überforderung.»

Therese Kämpfers Vision heute: das Peer-Modell auf möglichst viele Gesundheitsbereiche ausweiten. Mit ihrem Verein myPeer entwickelt sie deshalb ein Ausbildungskonzept. Ihr Wunsch: Peer-Coach soll in vielen Bereichen ein bezahlter Beruf werden. Auch aus der Erfahrung, dass weniger wertgeschätzt wird, was nichts kostet. «Dieses Denken ist eben noch weit verbreitet», weiss Kämpfer, «und wir wollen nicht, dass ehrenamtliche Peers einfach als billige Physiotherapeuten und Psychologinnen gebraucht werden.» Stattdessen soll ihre ureigene Arbeit angemessen entschädigt werden.

«Peers helfen anderen, Entscheidungen zu treffen»

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Studiogespräch
Legende: srf

Jörg Haslbeck, Prorektor der Careum Hochschule Gesundheit, spricht im «Puls»-Studio über Möglichkeiten und Grenzen des Peer-Systems bei unterschiedlichen gesundheitlichen Problemen.

SRF: Jörg Haslbeck, braucht es wirklich eine Ausbildung? Peers funktionieren doch eben, weil sie auf Augenhöhe sind und es kein Experten-Patienten-Gefälle gibt.

Jörg Haslbeck: Vielleicht ist «Ausbildung» nicht der richtige Begriff. Es geht ja nicht um einen Beruf, sondern eher um etwas, wo Menschen sich engagieren und ihre eigene Erfahrung einbringen. Ich fände «Training» oder «Weiterbildung» wohl passender.

Was muss ein Peer an Qualifikationen oder Talent mitbringen?

Offenheit und Empathie sind sicher wichtig. Auch die Fähigkeit, über sich reflektieren zu können und zu abstrahieren, was die eigene Krankheitserfahrung ist und was eine kollektive Krankheitserfahrung ist, weil es anderen Menschen ähnlich geht.

«Was gratis ist, ist nichts wert. Deshalb braucht es für Peers einen Lohn», sagt Therese Kämpfer.

Jein ... Ich glaube, es braucht auch ein ehrenamtliches Engagement. Aber wenn es ein aufwendiger Einsatz ist, etwa im Bereich der psychischen Gesundheit oder bei Menschen mit Behinderungen, dann kann es schon eine Aufwandsentschädigung geben.

Kann man Peers überall im Gesundheitswesen einsetzen – zum Beispiel bei Krebs?

Das wird schon so gelebt, auch bei Krebserkrankungen. Hier in der Schweiz vielleicht noch nicht in der Systematik wie im Bereich der psychischen Gesundheit und von Menschen mit Behinderungen. Aber das Potenzial ist da. Schlussendlich sind die Peers dort aktiv, wo es um Entscheidungen geht. Also nicht bei der Frage, wofür man sich entscheidet, sondern beim Prozess, wie man zu diesen Entscheidungen kommt. Und beim Aufzeigen, was eine Entscheidung nach sich ziehen kann.

Wird das Peer-Potenzial in der Schweiz gut genug genutzt?

Hört man vielen chronisch Kranken zu, ist es oft eher zufällig, dass sie auf solche Möglichkeiten aufmerksam werden. Mehr Systematik bei der Promotion wäre sicher wünschenswert.

Das Gespräch führte Daniela Lager.

Puls, 13.12.2021, 21:05 Uhr

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