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Mysterium – das Wissenschaftsmagazin ergründet Geheimnisse: Wachkoma – Leben in der Schattenwelt des Bewusstseins. Sommerserie 3/7
Aus Wissenschaftsmagazin vom 21.07.2018. Bild: SRF / Matthias Willi
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Mysterium Wachkoma Was erlebt ein Mensch im Wachkoma?

Menschen im Wachkoma sind Grenzgänger: wach, aber bewusstlos. Doch womöglich nehmen sie mehr wahr als erwartet.

Von ihrem alten Leben fehlen ihr fünf Minuten. Vom neuen vier Monate. Ein Autounfall zerteilt Melanie Zimmermanns Biografie in ein Davor und ein Danach.

Am 9. September 2017 verabschiedet sie sich nach dem Schülergottesdienst von ihrem Sohn. Das ist ihre letzte Erinnerung vor dem Unfall.

Fünf Minuten später dreht ein junger Mann am Ortsausgang das Steuer seines Wagens nach links, setzt an unübersichtlicher Stelle zu einem Überholmanöver an und kracht frontal gegen das entgegenkommende Auto.

Mir fehlen vier Monate. Die Zeit vom September bis zum Dezember ist komplett weg. Keine Erinnerung.
Autor: Melanie Zimmermann ehemalige Koma-Patientin

Ins geistige Nirgendwo

Melanie Zimmermann erleidet massive Verletzungen: unzählige komplizierte Knochenbrüche, an Beinen und Armen gelähmt, ein schweres Schädel-Hirn-Trauma.

Porträt Melanie Zimmermann
Legende: Melanie Zimmermann ist nach einem schweren Unfall ins Koma gefallen – ein rätselhafter Zustand. SRF / Claudia Herzog

Sie fällt in ein zeitliches Nichts. «Mir fehlen vier Monate. Die Zeit vom September bis zum Dezember ist komplett weg. Keine Erinnerung», sagt Zimmermann.

In dieser Zeit durchlebt Melanie Zimmermann alle Phasen des geistigen Erwachens: erst vom Koma ins Wachkoma, dann vom minimalen Bewusstseinszustand zum vollen Bewusstsein.

Wir verstehen noch wenig von den Bewusstseinszuständen nach Hirnverletzungen.
Autor: Margret Hund-Georgiadis Chefärztin Rehab Basel

Keine Erinnerungen

Während vieler Wochen bleibt die 37-Jährige geistig in einem Schattenreich hängen. Die Zeit des Wachkomas, dieser Übergang vom Koma zu einem minimalen Bewusstsein, erscheint Zimmermann als die rätselhafteste.

Dieser Zustand mit Wach- und Schlafphasen, in dem die Betroffenen mit offenen Augen doch ohne erkennbares Bewusstsein verharren, ist von der Wissenschaft noch in weiten Teilen unverstanden.

Rollstuhl kommt aus Tür in einen Gang
Legende: Wachkoma-Patienten sind wach, aber ohne Kontakt zu ihrer Umwelt. Im Rehab Basel werden die Hirnströme der Patienten gemessen, um festzustellen, welche Reize im Gehirn ankommen. SRF / Matthias Willi

Melanie Zimmermann kann sich nicht an ihr Wachkoma erinnern. Selbst die Wochen, in denen sie bereits wieder sprechen konnte, sind weg.

Das Wachkoma ist schwer fassbar

Margret Hund-Georgiadis, die Chefärztin des Rehab Basel, rätselt wie alle Koma-Forscher: «Was macht das Gehirn hinter dem Wachkoma? Wir verstehen noch so wenig von den Bewusstseinszuständen nach Hirnverletzungen. Da sind wir wirklich erst an der Tür.»

Porträt Margret Hund-Georgiadis
Legende: Margret Hund-Georgiadis, Chefärztin des Rehab Basel, geht der Frage nach, wie viel Bewusstsein Wachkoma-Patienten haben. Rehab Basel

Während Koma-Patienten unweckbar in tiefster Bewusstlosigkeit verharren, haben Wachkoma-Patienten Schlaf- und Wachphasen. Sie atmen selbständig. Manche können essen. Aber sie zeigen keine sinnvollen Reaktionen auf Fragen oder Berührung. Per definitionem werden ihnen Schmerzempfinden und Gefühle abgesprochen.

Doch so klar ist die Realität nicht. Margret Hund-Georgiadis zweifelt. Bewusstsein sei vielleicht schon im Wachkoma da und die bisherige Definition zu überdenken.

Was kommt im Gehirn an?

Am Rehab Basel, das die einzige Wachkoma-Station der Schweiz beherbergt, werden alle Patienten mittels EEG getestet. Die Elektroenzephalografie misst die Hirnströme.

Gebäude des Rehab Basel von aussen, Sitzplatzim Vordergrund
Legende: Das Rehab Basel beherbergt die einzige Wachkoma-Station der Schweiz. SRF / Matthias Willi

Zunächst geht es um die Frage, ob Sinnesreize im Gehirn eines Patienten überhaupt ankommen. Kann er sehen, kann er hören, kann er Schmerz spüren?

Dann schauen die Hirnforscher, ob die Reize weiterverarbeitet werden. Sie lassen Patienten beispielsweise grammatikalisch falsche Sätze hören. Patienten, die das «Störsignal» erkennen, zeigen ein anderes Hirnstrommuster als Patienten, die den Hörreiz nicht weiterverarbeiten.

Fehldiagnosen mit tragischen Folgen

Dies zu wissen ist nicht nur interessant, sondern existenziell wichtig. Neuere Studien zeigen, dass über die Hälfte der Wachkoma-Patienten zumindest ein «verdecktes inneres Verhalten» hat. Das ist gut und tragisch zugleich. Was da ist, kann gefördert werden. Was übersehen wird, führt zu Fehldiagnosen.

Etwa jeder dritte Wachkoma-Patient – so die Schätzung der Forschung – ist eigentlich gar keiner. Und verkümmert im Pflegeheim.

Ein minimales Bewusstsein

Auch Margret Hund-Georgiadis ist sich sicher, dass in Pflegeheimen Patienten liegen, die man zu früh aufgegeben hat. Menschen, die über ein zumindest minimales Bewusstsein verfügen, Schmerzen empfinden, Gefühle haben. All dies aber nicht gegen aussen bemerkbar machen können.

Person im Rollstuhl
Legende: Am Rehab Basel versuchen Therapeutinnen und Pfleger, Patienten aus dem Wachkoma zurückzuholen. SRF / Matthias Willi

Sie driften in den Tiefen eines versehrten Körpers und Gehirns und erhalten nicht die nötige therapeutische Hilfe, um sich in die Welt um sie herum einklinken zu können.

Den Geist aus der Reserve locken

Therapeutinnen und Pfleger werfen jeden Tag Rettungsringe aus und versuchen, Patienten aus diesem amorphen Bewusstseinszustand ins Hier und Jetzt zurückzuholen.

Jede Therapiestunde, jede pflegerische Handlung wird in adäquatem Tempo und mit einfachen Worten an den Bewusstseinszustand der Patienten angepasst.

Auf der Wachkoma-Station

Es ist 11 Uhr morgens an einem sonnigen Juli-Tag. Christof Meiser, Leiter der Wachkoma-Station am Rehab Basel, weckt Sandra.

Sandra ist Mitte 20. Vor vier Monaten ist sie vom Pferd gestürzt und mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma im Koma gelandet. Mittlerweile ist ihr Geist im Begriff, das Wachkoma zu verlassen.

Christof Meiser hält die Hand einer Frau, die auf dem Bett liegt
Legende: Christof Meiser versucht, Sandra Halt zu geben. Ziel ist es, dass sie allmählich wieder ein Bewusstsein entwickelt. SRF / Matthias Willi

Sandra befindet sich irgendwo im Land eines minimalen Bewusstseins. Sie kann sich nicht selbst bewegen, nicht sprechen, nicht die Augen koordinieren.

Begreifen, was passiert

Christof Meiser weckt die Patientin mit einer sanften Berührung und einem leisen Hallo. Er sucht ihren Blick.

Sandra braucht Zeit, um wach zu werden. Sie soll die Möglichkeit haben, zu begreifen, was mit ihr passiert.

Sie soll wenigstens ansatzweise nachvollziehen, dass dieser Mann in Weiss sie jetzt aus der Seitenlage auf den Rücken drehen und sie in den Rollstuhl setzen will.

Der Wachkoma-Pfleger erklärt jeden seiner Schritte. Nur so hat ihr verletztes Gehirn die Chance, Zusammenhänge herzustellen zwischen inneren und äusseren Vorgängen und so allmählich wieder ein Bewusstsein von sich selbst zu entwickeln.

Wo beginnt das Ich?

Immer wieder schüttelt Christof Meiser Sandra leicht. Sie soll spüren, dass sie einen Körper hat, wo dieser beginnt, wo er endet, in welcher Position er sich gerade im Raum befindet.

Christof Meiser am Bett einer Patientin
Legende: Das Gefühl für den Körper ist wichtig: Sandra soll spüren, wo er beginnt und wo er endet. SRF / Matthias Willi

Die Patientin ist eingebettet in viele kleine Kissen, die bei jeder Lageveränderung mitverschoben werden. Möglichst viel Körperoberfläche soll in fühlbarem Kontakt zur Umwelt stehen.

Ein Kraftakt für alle

Nach langem, langsamem Drehen auf der Matratze liegt Sandra quer im Bett. Meiser stellt das Bett ein bisschen hoch und lässt Sandra sanft auf den Rollstuhl gleiten. Christof Meiser läuft mittlerweile der Schweiss von der Stirn. Sandra kann ihren Kopf kaum mehr aufrecht halten.

45 Minuten sind vergangen. 45 Minuten Schwerstarbeit für beide: für Sandra eine erschöpfende Hirnleistung, für Christof Meiser ein körperlicher Kraftakt – und manchmal auch ein emotionaler.

Die Bewusstseinsforschung erwacht

Philosophen machen sich seit Jahrhunderten Gedanken über das Bewusstsein. Die Hirnforschung erst seit Kurzem.

Bis vor 20 Jahren befand sich die Koma- und Bewusstseinsforschung selbst gewissermassen in einem komatösen Zustand. «Und das ist sehr galant ausgedrückt», sagt Margret Hund-Georgiadis.

Betreuerin gibt Patientin eine Zitrone in die Hand
Legende: Sandra lernt, ihre Umwelt und sich selbst wieder richtig wahrzunehmen. Was sie vor dem Erwachen aus dem Wachkoma wahrgenommen hat, gibt der Forschung Rätsel auf. SRF / Matthias Willi

Sie glaubt, dass sich die Wissenschaft so lange nicht ans Thema wagte, weil die Philosophie die Hürden im Verlauf der Geschichte so hoch gesetzt hatte.

Das Bewusstsein erschien den Medizinern und Naturwissenschaftlerinnen zu komplex und unergründlich.

Wacher als angenommen

Ende des letzten Jahrtausends hauchten Pioniere wie der belgische Koma-Forscher Steven Laureys der Bewusstseinsforschung wieder Leben ein.

Sie vermuteten, dass im Gehirn von Patienten im Wachkoma mehr Wachheit vorhanden ist als bisher angenommen. Bildgebende Verfahren sollten der neuen Generation von Koma-Forschern recht geben.

Was ist Wachkoma?

2009 schob Laureys zusammen mit seinem britischen Kollegen Adrian Owen als Wachkoma-Patienten eingestufte Menschen in den Hirnscanner.

Sie baten die teilnahmslosen Patienten sich vorzustellen, sie würden Tennis spielen oder durch ein Haus gehen. 5 der 54 Probanden zeigten tatsächlich vermehrten Blutfluss in dafür typischen Hirnarealen.

Sie hatten also ein minimales Bewusstsein – und waren falsch diagnostiziert. Oder ein Beleg dafür, dass man das Wachkoma-Konzept überdenken sollte.

Wo sitzt das Bewusstsein?

Doch Messen ist das eine. Zu wissen, was man gemessen hat, das andere. Kritiker sagen: Es gibt Prozesse im Kopf, die automatisch ablaufen. Völlig ohne Bewusstsein. Das könnte fürs Tennisspielen im Kopf gelten.

Auch die Reaktion auf falsche Grammatik könnte ein Automatismus eines seit frühester Kindheit mit Sprache vertrauten Gehirns sein.

Frau presst mit Unterstützung einer anderen Person eine Zitrone aus
Legende: Die Pfleger sollen auch die Sinneseindrücke fördern. Dazu gehört zum Beispiel, zusammen eine Zitrone auszupressen. SRF / Matthias Willi

Bilder aus dem Scanner sind keine Fotos vom Bewusstsein. Aber sie sind eine Annäherung an das, was Forscher wie Steven Laureys und Margret Hund-Georgiadis dahinter vermuten: Das «Ich» im Kopf entsteht durch das Konzert der Nervenzellen.

100 Milliarden Neuronen

Nervenzellen brauchen Gesellschaft. Allein bewirken sie wenig. Im Verbund jedoch viel. Jede Nervenzelle des Gehirns ist mit Tausenden von anderen in Kontakt und tauscht mit diesen Informationen aus.

Vielleicht ist Bewusstsein gar nicht so viel, wie wir denken. Vielleicht ist es einfach ein Wachsein und nicht mehr.
Autor: Margret Hund-Georgiadis Chefärztin Rehab Basel

Die Verschaltung der rund 100 Milliarden Neuronen in unserem Gehirn lässt das Entstehen, was wir Bewusstsein nennen. Werden die Netzwerke durch einen Unfall oder einen Hirnschlag zerstört, verstummt auch das Bewusstsein.

Was ist Bewusstsein?

Eine Theorie ist jene, dass es zwei Netzwerke sind, die ineinander Greifen und das menschliche Bewusstsein bilden. Das äussere Netzwerk ermöglicht die Wahrnehmung des Körpers und seiner Umgebung.

Es bringt Sinneseindrücke ins Bewusstsein. Es evoziert ein implizites Selbst im Hier und Jetzt. Eine elementare, existenzielle Selbstwahrnehmung.

Das andere, das innere Netzwerk, ist ein evolutionär jüngeres. Es dreht sich um sich selbst, um die Innenschau: Wer bin ich, was will ich?

Das innere Netzwerk hält unsere eigene Geschichte, unsere Biografie aufrecht.

Die Vermessung des Bewusstseins

Die genaue Vermessung des Bewusstseins ist das Ziel der Forschung. Doch was bedeutet das für jene Patienten, denen das Bewusstsein abgesprochen wird? Denen kein Behandlungspotenzial mehr attestiert wird? Das sind ethische Fragen der Zukunft – auf die Bescheidenheit heute eine Antwort sein könnte.

Spitalbetten, auf einem liegt ein Stofftier
Legende: Der Zustand des Wachkomas, in dem die Betroffenen mit offenen Augen doch ohne erkennbares Bewusstsein verharren, ist für die Wissenschaft noch in weiten Teilen unverstanden. SRF / Matthias Willi

Hirnforscherin Margret Hund-Georgiadis sinniert über die Relativierung des Gemessenen: «Wir haben sehr philosophische Vorstellungen vom Bewusstsein. Das haben wir so gelernt. ‹Ich denke, also bin ich›, zum Beispiel. Aber vielleicht müssen wir uns erstmal sehr klein machen. Vielleicht ist Bewusstsein gar nicht so viel, wie wir denken. Vielleicht ist es einfach ein Wachsein und nicht mehr.» Aber auch nicht weniger.

Denn in der Regel bleiben auch bei jenen Menschen, die zum Bewusstsein zurückfinden, Beeinträchtigungen zurück. Das ist auch bei Melanie Zimmermann so.

Zurück in ein anderes Leben

Zehn Monate nach dem Unfall ist ihr Hirn noch immer müde und schnell erschöpft. Die Energie von früher wird vielleicht nicht mehr zurückkommen.

Wenn ich mit den Kindern frühstücke und ihnen das Pausenbrot richte, werde ich fix und fertig sein und mich hinlegen müssen.
Autor: Melanie Zimmermann ehemalige Koma-Patientin

Darauf ist Melanie Zimmermann vorbereitet, wenn sie in wenigen Tagen die Reha verlässt und nach Hause zurückkehrt, zu ihrem Ehemann Patrick, der sechsjährigen Tochter Lea und dem neunjährigen Sohn Tim.

Kaum Energie für den Alltag

Sie, die vor dem Unfall so vieles unter einen Hut brachte – die Kindererziehung, den Job als Arbeitsvermittlerin, ihre Beziehung, ihre Freundschaften, den Haushalt – sie stellt sich auf ein neues Leben ein: «Am Anfang dachte ich, dass ich sofort wieder arbeiten gehen kann. Jetzt weiss ich: Wenn ich mit den Kindern frühstücke und ihnen das Pausenbrot richte, werde ich fix und fertig sein und mich hinlegen müssen.»

Kleiner wird es sein, das neue Leben von Melanie Zimmermann. Zumindest zu Beginn. Vielleicht wird es wieder in seine frühere Form hineinwachsen.

Doch wahrscheinlich wird es eine neue Gestalt annehmen. Eine, die der alten gleicht und doch einzigartig ist.

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