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Neue Wege in der Psychiatrie Wenn das Immunsystem auf die Psyche schlägt

Psychische Krankheiten wie Schizophrenie oder Depressionen sind nach wie vor rätselhaft. Nun sind Forscher einer neuen Ursache dieser Krankheiten auf der Spur: In manchen Fällen ist es das Immunsystem, das unser Gehirn angreift und uns psychisch krank macht.

Wahnvorstellungen, Schlaflosigkeit, ein epileptischer Anfall: Vor zehn Jahren erkrankte die Journalistin Susannah Cahalan an rätselhaften, psychotischen Symptomen. Die Ärzte tippten auf Schizophrenie. Doch dann stellte sich heraus, dass dem Krankheitsgeschehen eine Immunreaktion ihres Körpers zugrunde lag.

Susannah Cahalan ist längst genesen – und die Forschung weiss immer mehr darüber, wie das Immunsystem und die Psyche zusammenhängen könnten. Die Erkenntnisse haben zu neuen Ansätzen geführt, um psychische Krankheiten wie Psychosen, Schizophrenie oder Depression zu diagnostizieren und zu behandeln.

«Feuer im Kopf»

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Die Journalistin Susannah Cahalan ist 24 und lebt in New York, als sie eines Tages beim Gang über den Times Square seltsame Visionen bekommt. Die hellen Farben der Reklameflächen schmerzen ihr in den Augen, sträuben ihr die Nackenhaare und scheinen in ihren Zehen zu vibrieren. «Ich glaube, ich verliere den Verstand», sagt sie zu einer Redaktionskollegin der Zeitung.

Nach diesem Tag war für Cahalan nichts mehr, wie es war. Ihr Hirn begann, verrückt zu spielen und schickte sie auf einen Höllentrip, von dem die plötzlich so grellen Lichter auf dem Times Square nur der harmlose Anfang waren.

Nach endlosen Abklärungen fanden die Ärzte endlich die Ursache: Susannah litt an einer autoimmunen Hirnentzündung. Ihr Gehirn wurde von ihrem eigenen Körper angegriffen. Dank einer Therapie, die auf das Immunsystem zielte, wurde sie wieder gesund.

Susannah Cahalan hat über ihre Krankheitsgeschichte einen autobiografischen Roman geschrieben: «Feuer im Kopf – meine Zeit des Wahnsinns» (auf Deutsch beim mvg-Verlag). Das Buch war in den USA ein Bestseller und ist vergangenes Jahr bei Netflix verfilmt worden.

Ein etabliertes Krankheitsbild ist die sogenannte «Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis». Bei dieser Krankheit bildet der Körper Abwehrstoffe gegen den NMDA-Rezeptor im Gehirn – ein Molekül, das bei der Signalübertragung zwischen den Nervenzellen eine wichtige Rolle spielt. Wenn Antikörper diese Funktion unterbinden, kommt es zu psychotischen Symptomen.

Routinemässige Untersuchung gefordert

Die «Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis» wurde vom Hirn-Spezialisten Josep Dalmau 2007 erstmals beschrieben. Seine Entdeckung hat das Feld zu einer neuen Kategorie von Krankheiten eröffnet: Inzwischen sind 16 Autoimmunerkrankungen des Gehirns bekannt, die durch Antikörper verursacht werden.

Man spricht von Autoimmun-Enzephalitis, denn bei allen spielen Hirnentzündungen mit. Vier von fünf Betroffenen erkranken an einer Psychose.

Deshalb sollten Patienten, die mit einer Psychose in die psychiatrische Klinik eingeliefert werden, routinemässig auf Antikörper untersucht werden: Diese Meinung vertritt etwa die britische Psychiaterin Belinda Lennox.

«Nur so können wir sicher sein, dass alle Patienten richtig behandelt werden», sagt Lennox. «Sind Antikörper im Spiel, nützen Antipsychotika nichts.»

Eine Darstellung eines Menschen mit gerötetem Hirn
Legende: In manchen Fällen ist es das Immunsystem, das unser Gehirn psychisch krank macht. Getty Images / SCIEPRO / SCIENCE PHOTO LIBRARY

Wenn Antidepressiva nicht helfen

Diese Patienten brauchen stattdessen eine Blutwäsche, bei der die krankmachenden Antikörper aus dem Blut gefiltert werden, oder Steroide, um das Immunsystem herunterzufahren. Belinda Lennox schätzt, dass antikörperbedingte Psychosen fünf bis zehn Prozent aller Fälle ausmachen.

Auch Depressionen könnten zum Teil durch das Immunsystem verursacht sein. Das vermutet Golam Khandaker. Er ist Psychiater und forscht an der University of Cambridge.

Er und sein Team haben herausgefunden, dass mindestens ein Viertel der Patienten mit Depressionen gleichzeitig eine chronische Entzündung haben. «Das sind genau diejenigen Patienten, die nicht gut auf die gängigen Antidepressiva ansprechen, die in den Serotonin-Haushalt im Gehirn eingreifen», erklärt er.

Entzündungshemmer als Hilfe

Khandaker und seine Gruppe versuchen nun einen anderen Weg: Im Rahmen einer Studie behandeln sie depressive Patienten, die erhöhte Entzündungswerte im Blut aufweisen, mit einem sogenannten monoklonalen Antikörper, der für rheumatoide Arthritis zugelassen ist, um Gelenksentzündungen zu behandeln.

«Wir dürfen Patienten, bei denen Antidepressiva nichts nützen, nicht einfach abschreiben», sagt Golam Khandaker. «Unsere Studien sollen zeigen, ob man therapieresistenten Patienten, die seit Jahren unter Depressionen leiden, mit diesem neuen Ansatz helfen kann.»

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