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Ospidal Scuol - Neue Wege in der ganzheitlichen Behandlung

Noch sind die tiefen Gräben zwischen Schul- und Komplementärmedizin nicht überwunden. Unter den «Hardlinern» beider Disziplinen ist klar, dass sich das eine nicht mit dem anderen verträgt. Im Spital von Scuol im Unterengadin arbeiten Schul- und Komplementärmediziner jedoch Hand in Hand - jeden Tag.

Alles begann 2007. Damals entschied sich Spitaldirektor Joachim Koppenberg ausgrund einer Initiative des Schulmediziners Gina Flury und des Komplementärmediziners Hannes Graf, Schul- und Komplementärmedizin als Pilotprojekt für drei Jahre im Spital anzubieten. Doch die Erfahrungen waren so positiv und die Nachfrage so rege, dass sie die Spitaldirektion schon nach zwei Jahren dafür entschied, das Modell fest ins Spitalangebot aufzunehmen.

Die Idee war einerseits strategisch begründet: Scuol ist abgelegen, ein Zusatzangebot sollte das Spital aufwerten. Was lag näher als das naturnahe Scuol und seine Bädertradition mit Komplementärmedizin zu verbinden? Andererseits hatte Koppenberg die Schweizer PEK-Studie (2005) über den Nutzen der Komplementärmedizin gelesen. Die Ergebnisse hatten den skeptischen Schulmediziner – Koppenberg ist selbst Anästhesist – überzeugt: «Es gibt Studien, die zeigen, dass gerade bei chronischen Schmerzpatienten Komplementärmedizin besser oder identisch ist, günstiger und mit weniger Nebenwirkungen auskommt als die Schulmedizin. Da war für mich klar, dass wir diese Vorteile ins Boot holen müssen.» Im Alltag findet der Anästhesist die Studienergebnisse bestätigt: «Gerade in der Behandlung der Übelkeit nach einer Narkose hat die Homöopathie sehr gute Ergebnisse gezeigt.»

Ein weiterer Vorteil für dieses Projekt war, dass sich Herzspezialist und Internist Dr. Gian Flury und Komplementärmediziner Dr. Hannes Graf bereits kannten und schätzten. Beide waren offen für das Pilotprojekt, und so stand der Zusammenarbeit nichts mehr im Wege.

Den Menschen wieder vermehrt als Ganzes betrachten

Zusätzlich zum Akutspital mit 30 Betten entstand eine Komplementärstation mit sechs Betten. Die Station hat Hannes Graf ganz nach den Regeln der Anthroposophie eingerichtet: Holzböden, Seidenvorhänge, warme Farben an den Wänden und viele Pflanzen machen vergessen, dass man sich in einem Spital befindet. Der Komplementärmediziner arbeitet auf den Grundlagen der Anthroposophie. Hier will man den Menschen als Ganzes wahrnehmen und Selbstheilungskräfte aktivieren. «Der grösste Unterschied zwischen mir und der Akutmedizin ist wohl, dass wir uns mehr Zeit für den einzelnen Menschen nehmen», erklärt Graf. «Das heisst aber auch, dass unser Heilungsverfahren ebenso mehr Zeit in Anspruch nimmt. Da ist die Schulmedizin mit ihren effizienten Mitteln viel schneller, wenn es darum geht, Symptome zu bekämpfen.»

Im Angebot der Komplementärmedizin stehen die Anthroposophische Krebstherapie, Arzneimittel auf pflanzlicher oder mineralischer Basis (Phytotherapie und Homöopathie), äussere Anwendungen wie Wickel, Schröpfen oder Kompressen, Palliative Care (also die Begleitung Schwerkranker bis zum Tod) und perioperative Betreuung. Hier begleitet der Komplementärmediziner auf Wunsch Patienten vor und nach einer Operation (z.B. bei Hüftprothesen).

Für die Ärzte ist klar, dass die Komplementärmedizin die Schulmedizin nicht ersetzen will, sondern auf deren wissenschaftlicher Basis aufbaut und auch alles einsetzt, was der konventionellen Medizin zur Verfügung steht, wie Medizintechnik, Labor oderOperationen.

«Als wir 2007 begannen, hatten wir Anfragen aus der ganzen Schweiz für Steinauflegen, Kräuterexpertisen, Wunderheiler und andere diffuse Vorstellungen. Davon wollen wir uns klar abgrenzen», betont Spitaldirektor Koppenberg. Für Hannes Graf, selbst ausgebildeter Schulmediziner, ist die Zusammenarbeit mit der Schulmedizin kein Widerspruch – im Gegenteil: «Die Zusammenarbeit ist existentiell, hier finde ich schulmedizinische Kompetenz, die ich nicht habe. Ich will ja auch wissen, was schulmedizinisch los ist und dass es dem Patient besser geht.»

Mehr Neuland in der Zusammenarbeit hat hingegen Internist und Kardiologe Gian Flury betreten. Er gesteht, dass er früher wenig mit Komplementärmedizin anfangen konnte. Allerdings läuft die zunehmend spezialisierte Medizin in seinen Augen Gefahr, den Menschen als Ganzes aus den Augen zu verlieren. Nun hat Flury die Erfahrung gemacht, dass der Einsatz der erweiterten Medizin funktioniert, auch wenn er es nicht erklären könne. Als Beispiel erzählt er folgende Episode: «Ich hatte eine 48-jährige Patientin mit einem Herzinfarkt; trotz allen meinen Massnahmen kam ich nicht an sie heran. Dann setzte ich mich mit Dr. Graf in Verbindung. Sie wurde zusätzlich mit Gesprächen therapiert, bekam andere Medikamente und war nachher wie verwandelt.»

Der Patient entscheidet

Video
Interview mit Spitaldirektor Dr. Joachim Koppenberg, Ospidal Scuol
Aus Puls vom 26.03.2012.
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 2 Sekunden.

Meinungsverschiedenheiten kennen die beiden Ärzte nicht. In erster Linie entscheidet der Patient, welche Behandlung er will. Wichtig ist für Graf und Flury, dass ein Arzt den Lead übernimmt. In der Regel ist es derjenige, zu welchem der Patient ursprünglich in Behandlung gekommen ist. Viele kommen über den Weg der konventionellen Medizin in Kontakt mit Komplementärmedizin. «Ich gehe regelmässig mit auf Visite, und wenn mir etwas auffällt, dann unterbreite ich einen Vorschlag. So entsteht der erste Kontakt», erklärt Hannes Graf. Der Patient kann das komplementärmedizinische Angebot annehmen, muss aber nicht.

Inzwischen kommen aber auch immer mehr Betroffene nur wegen der Komplementärmedizin nach Scuol. So wie Anna-Käthi Gächter: Die MS-Patientin ist eigens aus dem Unterland nach Scuol gereist, weil sie ihre Schmerzen mit komplementärmedizinischen Massnahmen nicht mehr ausreichend bekämpfen konnte. Sie benötigt zusätzlich eine Schmerzpumpe, die ihre Beschwerden erleichtert. Da sie permanent Pflege braucht, ist sie direkt in die Pflegestation des Spitals eingezogen: «Ich wüsste nicht, wohin ich sonst hätte gehen können. Die ganzheitliche Betreuung ist ein wichtiger Grund für mich, dass ich nach Scuol gekommen bin.»

Keine zusätzlichen Kosten

Da das Spital mit Fallpauschalen abrechnet, entstehen keine zusätzlichen Kosten für die ergänzende Betreuung. Die beiden Abteilungen rechnen unter sich ab. Die rein komplementärmedizinischen Angebote werden von der Grundversicherung vergütet.

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