60‘000 Menschen sterben in der Schweiz pro Jahr. Zwei Drittel von ihnen waren vor ihrem Tod in palliativer Betreuung. Das erstaunt kaum: Nur einer von zehn Verstorbenen wurde abrupt aus dem Leben gerissen. Die restlichen neun starben nach mehr oder weniger langen Krankheitsphasen. Die Gruppe dieser unheilbar Kranken wird in den kommenden Jahren mit der sich immer weiter verbessernden Medizin und einer immer älter werdenden Bevölkerung deutlich zunehmen.
Herkömmliche Betreuungsangebote werden diesen Zuwachs – wirtschaftlich wie organisatorisch – kaum stemmen können. Neue Ansätze müssen her. Die palliative Pflege ist ein solcher weltweit diskutierter und akzeptierter Ansatz. 80 Prozent aller Befragten gaben im Jahr 2009 in einer Umfrage an, dass sie gerne eine palliative Behandlung in Anspruch nehmen würden, sollten sie unheilbar krank sein. Sogar die WHO hat 2002 internationale Kriterien für die Palliativmedizin festgelegt. Zusammenfassen lässt sich die palliative Behandlung mit vier «S»:
- S ymptombehandlung: Lebensqualität erhalten statt Heilung
- S elbstbestimmung: Patient hat Mitspracherecht, z.B., ob er zuhause gepflegt werden will und wie weit seine medizinische Behandlung reichen soll
- S icherheit: Durch Spitex, aber auch spezielle palliativmedizinische Dienste, ist die medizinische Sicherheit gewährleistet
- S upport für Angehörige: Angehörige werden bei der Betreuung entlastet und auch psychologisch begleitet
Palliative Medizin bedeutet nicht Sterbemedizin
Auch wenn der Begriff der palliativen Medizin – oder in der Fachsprache: palliative care – zunehmend im Gespräch ist: Die palliative Medizin erfindet die Medizin nicht neu. Sie fokussiert lediglich anders als die klassische Medizin. Im Zentrum steht nicht die Heilung eines Patienten, sondern der Versuch, die ihm verbleibende Zeit so gut erträglich wie möglich zu machen. «Das Ziel, Patienten zu heilen ist ein ganz hohes Ziel. Wenn wir das erreichen, ist es natürlich das, was wir am liebsten haben«, sagt Christoph Rochlitz, Chefarzt und Leiter des Brustzentrums der Onkologischen Klinik des Unispitals Basel. «Aber gerade in der Onkologie ist es häufig so, dass wir ziemlich früh wissen, dass wir nicht mehr heilen können. Die Frage ist: Wann beginnt das, was man Palliativmedizin nennt? Die Palliativmedizin heute wird oft mit dem Begriff des Sterbens assoziiert – und das ist eine ganz falsche Idee.»
In dem Augenblick, ab dem klar ist, dass für einen Patienten keine Heilung mehr möglich ist, wird er zum Palliativpatienten – selbst dann, wenn es ihm im Augenblick noch gut geht und unabhängig davon, ob seine Lebensprognose drei Wochen, drei Monate oder 13 Jahre beträgt.
Die palliative Medizin teilt die Patienten in zwei Gruppen ein. Während für die Patienten der Gruppe A das Angebot der Grundversorgung, z. B. mit hausärztlicher Betreuung oder Spitex, noch ausreicht (80 Prozent der Fälle), braucht die Gruppe B (20 Prozent der Fälle) aufgrund der Komplexität ihrer Symptome oder ihres instabilen Gesundheitszustands eine Betreuung durch die spezialisierte Palliative Care.
Mehr Personal für unheilbar Kranke
Die meisten Patienten möchten trotz ihrer schweren Krankheit zuhause sein. Nicht allen Patienten ist das möglich. Weil sich eine palliative Betreuung oft über einen sehr langen Zeitraum hinziehen kann, kommen nicht-spezialisierte Stationen in der Behandlung dieser Patienten oft an ihre Grenzen. Im Alltag einer Akutklinik besteht eine Aufnahmepflicht für Notfallpatienten und damit entsteht der Druck, Betten schnell wieder frei zu machen. «Für diese Fälle haben wir einen Vertrag mit einem Hospiz», erklärt Christoph Rochlitz, der sich auch für seine Station Palliativbetten wünschen würde. «Die Palliativstationen haben häufig einen besseren Pflegeschlüssel. Wenn man, wie wir hier, jeden Tag eine grosse Zahl Patienten aufnimmt und wieder entlässt, entsteht eine gewisse Hektik, die gerade der Palliativmedizin nicht zuträglich ist.»
Betreuung durch die Jahrhunderte
Dass Menschen ohne Aussicht auf Heilung einer speziellen Pflege bedürfen, war bereits im Mittelalter bekannt. Schon damals existierten Hospize, in denen Schwer- und Todkranke aufopfernd gepflegt wurden. Mit dem medizinischen Fortschritt rückte zunehmend die Heilung ins Zentrum. Erst 1967 nahm die Britin Cicely Saunders den palliativ orientierten Betreuungsfaden wieder auf und institutionalisierte diese Idee im St. Christopher`s Hospice in London. Dort wurden Todkranke in ihrem letzten Lebensabschnitt nicht nur medizinisch optimal betreut, sondern auch spirituell oder sozial begleitet. In der Schweiz etablierte die Krankenschwester Rosette Poletti in den 1970er-Jahren diese Idee in Genf, wo auch die erste Schweizer Palliativstation entstand.
Seitdem ist viel geschehen. Längst versucht die Medizin nicht mehr, Leben in jedem Fall auf Brechen und Biegen zu verlängern, wenn es der Patient nicht will und wenn die Prognose klar ist. Bis sich das Bewusstsein, dass auch Sterben zum Leben gehört, flächendeckend in Form von speziellen Abteilungen oder Einrichtungen niederschlägt, braucht es jedoch noch Zeit.