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Ringen um Gentests Warum ein Gesetz Schuld ist an der Ungewissheit von Patienten

Menschen mit seltenen Krankheiten bekommen oft nur mit grosser Mühe eine Diagnose. Das liegt auch an der Gesetzeslage.

Nadja, 42, ist Mutter von zwei Kindern. Ihr jüngster Sohn Noah ist gerade zwei geworden, und seit ein paar Monaten wissen sie endlich, was mit ihm los ist: Er hat das Silver-Russell-Syndrom, eine seltene Krankheit.

Die Zeit davor beschreibt Nadja als zermürbend: «Man zerfällt innerlich, weil man möchte, dass es seinem Kind gut geht.» Doch Noah geht es von Anfang an nicht gut: Er isst kaum etwas, schläft viel und wächst schlecht.

Eine Odyssee von Arzt zu Arzt

Nach seiner Geburt beginnt für die Eltern deshalb eine Odyssee: Sie laufen von Arzt zu Arzt, es gibt Bluttest um Bluttest – ohne Ergebnis. Bis die Ärzte am Universitätskinderspital beider Basel schliesslich einen Gentest vorschlagen.

Seit dem Test weiss Nadja, dass ihr Kind sein Leben lang beeinträchtigt sein wird. Andererseits ist die Angst, Noah könnte geistig zurückgeblieben sein, aus dem Weg geräumt. Beim Silver-Russell-Syndrom sind Stoffwechsel und Wachstum gestört. Typisch ist, dass die Kinder klein bleiben und eine dreieckige Gesichtsform haben.

Unnötige Abklärungen vermeiden

Dass Noahs Eltern fast zwei Jahre lang auf den klärenden Test warten mussten, hat medizinische Gründe. Es dauert manchmal, bis die Ärzte einer Sache auf die Spur kommen, gerade bei so seltenen Krankheiten.

Doch es gibt auch einen politischen Grund: Das Krankenversicherungsgesetz sieht vor, dass Gentests nur dann von den Kassen bezahlt werden, wenn es eine «therapeutische Konsequenz» gibt. Wenn der Patient oder die Patientin also nachher anders, besser behandelt werden kann. Mit dieser Regelung wollen die Kassen Kosten für unnötige Abklärungen vermeiden.

Ungewisse Diagnose, ungewisse Konsequenzen

Doch das Kriterium der «therapeutischen Konsequenz» zu erfüllen, ist oft nicht einfach, sagt Isabel Filges, Spezialistin für medizinische Genetik am Universitätsspital Basel: «Gerade wenn es noch keine Diagnose gibt, kann man nicht voraussagen, welche therapeutischen Konsequenzen der Test haben wird.»

Isabel Filges plädiert deshalb für ein «Recht auf Wissen», dafür also, dass die Diagnose an sich einen Wert hat, unabhängig davon, ob es therapeutische Konsequenzen gibt.

Noahs Mutter sagt dazu: «Seit wir wissen, was Noah hat, denken wir auch anders.» Die Diagnose habe ihr geholfen, das Sorgen- und Gedankenkarussell endlich zu bremsen.

Veraltetes Gesetz

Das Krankenversicherungsgesetz, das die Vergütung genetischer Tests regelt, trat 1996 in Kraft. Es ist über 20 Jahre alt. Seither hat sich medizinisch unendlich viel bewegt. «Die genetischen Tests sind viel besser geworden», sagt Isabel Filges. «Wir können viel mehr diagnostizieren als noch vor fünf oder zehn Jahren.»

Diesen Neuerungen trägt das Gesetz nicht Rechnung. Auf Anfrage von SRF verweist das Bundesamt für Gesundheit schlicht auf das geltende Gesetz.

Kein «Recht auf Wissen»

Es gibt also kein Recht auf Wissen, das die Betroffenen einfordern könnten. Diese Lücke trifft vor allem Menschen mit seltenen Krankheiten. Sie sind besonders oft auf genetische Diagnosen angewiesen, und häufig folgt aus der Diagnose für sie keine klare therapeutische Konsequenz.

Die Ärzte bemühen sich deshalb von Einzelfall zu Einzelfall mühsam um eine Argumentation, die den diagnostischen Gentest rechtfertigt. Immer mit dem unguten Gefühl, um etwas bitten zu müssen, was selbstverständlich sein sollte.

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