Bei Krankheit oder Unfall verlangen viele Arbeitgeber ein ärztliches Attest. Im Alltag sorgt dies aber oft für Unsicherheit: Wer sich aus dem Hause wagt, setzt sich dem unterschwelligen Verdacht aus, krankzufeiern.
«Arbeitsunfähigkeit heisst nicht Hausarrest», hält Arbeitsrechtler Roger Hischier dem entgegen. Herkömmliche Arztzeugnisse vermitteln aber genau diesen Eindruck.
Eine neue Form von Arztzeugnis soll das jetzt ändern. Es heisst explizit Arbeits fähigkeits zeugnis und legt den Fokus nicht darauf, was man nicht mehr leisten kann, sondern auf das, was noch geht.
Hinter dem Ansatz steckt der Verband der Versicherungsärzte. Dort ist man überzeugt, dass die Rückkehr an den Arbeitsplatz bei Langzeitkranken besonders sorgfältig geplant werden muss.
Im neu entwickelten Arbeitsfähigkeitszeugnis ist detailliert beschrieben, welche Arbeiten wie intensiv und mit welchem Pensum erledigt werden können.
Da die Mediziner nicht immer wissen können, was konkret ihrem Patienten im Job abverlangt wird, füllen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam einen Online-Fragebogen aus, der unter der Ägide des Arbeitgeberverbandes ausgearbeitet wurde.
Dessen Mitglieder haben naturgemäss kein Interesse an langen Absenzen. «Die sind menschlich schwierig», weiss Martin Kaiser. Dann stellen sich auch viele organisatorische Fragen, und schliesslich gehe es ins gute Geld.
Die volkswirtschaftlichen Kosten krankheitsbedingter Absenzen sind erheblich: 2016 waren es 6,9 Milliarden Franken.
Dass Arbeitgeber und Versicherer also ein Interesse an einer raschen Eingliederung haben, ist nicht erstaunlich. Aber auch der Arbeitnehmenden-Dachverband «Travaille Suisse» begrüsst es, wenn prinzipiell mehr auf die Fähigkeiten erkrankter Mitarbeiter gesetzt wird.
Wobei durchaus Vorbehalte bestehen: «Es besteht die Gefahr, dass Arbeitgeber diese Informationen ausnutzen, um auf Arbeitnehmende Druck auszuüben», warnt Präsident Adrian Wüthrich.
«Das ist sicher ein Punkt, den man im Auge behalten muss», meint Yvonne Bollag. Aber sie vertraut auf die Ärzte: «Die wissen, welche Belastungen medizinisch vertretbar sind und welche nicht.»
Die Verantwortung für langfristige Krankschreibungen bleibt also weiterhin beim Hausarzt. Philippe Luchsinger, Präsident der Haus- und Kinderärzte Schweiz, sieht darin auch Chancen: «Gerade wenn einem Arbeitnehmer gesagt wird ‹komm erst wieder, wenn Du wirklich gesund bist!› kann man darauf hinweisen, dass es schon vorher Möglichkeiten gibt, ihn zu beschäftigen.» Ein guter Schritt für den Wiedereinstieg.
Bis sich der neue Ansatz durchgesetzt hat, müssen aber alle Kantone mitziehen. Denn Arztzeugnisse sind derzeit noch kantonal geregelt. Und viele Kantone haben bereits heute ähnliche Zeugnisse für Langzeitausfälle – jeder sein eigenes.