Anders als die Corona-Pandemie soll die Spanische Grippe auch viele junge Gesunde in den Tod gerissen haben. Ob jung oder alt, ob gesund oder krank – bislang ging man davon aus, dass alle die gleiche Wahrscheinlichkeit hatten, an der 1918 grassierenden Grippe zu sterben. An konkreten Daten, welche diese Behauptungen unterstützen, fehlt es bislang allerdings. Nun haben sich zwei Anthropologinnen dem angenommen und 248 Skelette untersucht. Ihre im Fachmagazin PNAS veröffentlichen Forschungsergebnisse bringen Zweifel an unserem bisherigen Bild der Spanischen Grippe an.
Warum ausgerechnet Knochen neue Erkenntnisse liefern
Ein Grossteil der Forschung zur Spanischen Grippe stützt sich auf historische Bevölkerungsstatistiken und Volkszählungen. Diese Daten enthalten meist keine Information über Sozialstatus, Ernährung oder Gesundheitszustand. Darum bleibt oft unklar, ob die verstorbene Person zuvor kerngesund oder bereits vorerkrankt war.
Und hier kommen jetzt sogenannte bioarchäologische Daten ins Spiel. Dabei werden Skelettüberreste analysiert. Der Clou: Ein schlechter Gesundheitszustand kann unsere Knochen dauerhaft verändern. Im Wissen darum haben die zwei Anthropologinnen Amanda Wissler und Sharon Dewitte Knochenüberreste der Hamann-Todd-Skelettsammlung untersucht.
Konkret nahmen sich Wissler und Dewitte die Knochenhaut der Schienbeine genauer unter die Lupe. Befindet sich die Knochenhaut im Heilungsprozess oder ist bereits verheilt, war die Person vor ihrem Tod wahrscheinlich gesund. Ist die Knochenhaut hingegen beschädigt, deutet dies auf bestehende Verletzungen oder Infektionen hin. Deshalb sind diese Läsionen ein häufig verwendeter Indikator für Vorerkrankungen.
Das Bild der Spanischen Grippe gerät ins Wanken
Die kürzlich veröffentlichten Forschungsergebnisse zeigen: Ist die Knochenhaut beschädigt, liegt das Sterberisiko deutlich höher – und zwar unabhängig davon, ob die Person vor oder während der Pandemie von 1918 starb.
Soll heissen, dass Vorerkrankte entgegen der weit verbreiteten Annahme auch während der Pandemie ein höheres Sterberisiko hatten. So hatten sie während der Spanischen Grippe ein 2.7-mal grösseres Sterberisiko als ihre gesunden Zeitgenossinnen und -genossen. Die Untersuchungen von Wissler und Dewitte legen also nahe, dass auch diese Pandemie primär Gebrechliche in den Tod riss.
Wieso sich das Bild der Spanischen Grippe bis heute hält
Dass die Spanische Grippe Personen mit Vorerkrankungen besonders stark traf, steht im Einklang mit Beobachtungen aus jüngeren Pandemien. Widerspiegelt dies doch, was wir mit COVID-19 erleben: Die meisten Todesfälle treffen nicht gesunde Junge, sondern über 65-Jährige. Trotzdem gilt die Grippe von 1918 noch immer als eine, an der besonders viele Gesunde starben. Wie lässt es sich erklären, dass sich dieses Bild so lange halten konnte?
Wissler und Dewitte überrascht es nicht, dass zeitgenössische Beobachtungen und Berichte ein solches Bild vermitteln. Schliesslich forderte die Spanische Grippe unverhältnismässig viele gesunde, junge Todesopfer. Das war einprägsam und einschneidend für Familien- und Arbeitsleben. Nichtsdestotrotz hatten wohl auch bei dieser Grippe Gesunde die besseren Karten als Vorerkrankte.