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Spanische Grippe: Knochen liefern neue Erkenntnisse
Aus SRF 4 News vom 14.10.2023. Bild: Keystone / New York national guard
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Spanische Grippe Forscherinnen widerlegen den Mythos junger, gesunder Todesopfer

Die Influenza-Pandemie von 1918 soll Junge, Alte, Gesunde und Kranke gleichermassen getroffen haben. Dieses Bild hält bis heute. Doch nun haben zwei Anthropologinnen knapp 250 Skelette aus dieser Zeit untersucht – und widerlegen damit bisherige Annahmen.

Anders als die Corona-Pandemie soll die Spanische Grippe auch viele junge Gesunde in den Tod gerissen haben. Ob jung oder alt, ob gesund oder krank – bislang ging man davon aus, dass alle die gleiche Wahrscheinlichkeit hatten, an der 1918 grassierenden Grippe zu sterben. An konkreten Daten, welche diese Behauptungen unterstützen, fehlt es bislang allerdings. Nun haben sich zwei Anthropologinnen dem angenommen und 248 Skelette untersucht. Ihre im Fachmagazin PNAS veröffentlichen Forschungsergebnisse bringen Zweifel an unserem bisherigen Bild der Spanischen Grippe an.

Warum ausgerechnet Knochen neue Erkenntnisse liefern

Ein Grossteil der Forschung zur Spanischen Grippe stützt sich auf historische Bevölkerungsstatistiken und Volkszählungen. Diese Daten enthalten meist keine Information über Sozialstatus, Ernährung oder Gesundheitszustand. Darum bleibt oft unklar, ob die verstorbene Person zuvor kerngesund oder bereits vorerkrankt war.

Und hier kommen jetzt sogenannte bioarchäologische Daten ins Spiel. Dabei werden Skelettüberreste analysiert. Der Clou: Ein schlechter Gesundheitszustand kann unsere Knochen dauerhaft verändern. Im Wissen darum haben die zwei Anthropologinnen Amanda Wissler und Sharon Dewitte Knochenüberreste der Hamann-Todd-Skelettsammlung untersucht.

Knapp 250 von 3000 Skeletten untersucht

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Die über 3000 Skelette der Hamann-Todd-Sammlung stammen von Personen, die zwischen 1825 und 1910 geboren und zwischen 1910 und 1938 in Cleveland, Ohio, gestorben sind. Wissler und Dewitte starteten ihre Untersuchungen mit 369 dieser Skelette. Sie berücksichtigten jedoch nur Todesfälle natürlicher Ursache wie etwa einer Lungenentzündung, Krebs oder Influenza. Todesfälle unbekannter Ursache oder infolge von Unfall, Mord oder Suizid schlossen die Forscherinnen von ihren Analysen aus.

So analysierten Wissler und Dewitte insgesamt 248 Skelette. Eine solch kleine Stichprobe ist in der bioarchäologischen Forschung allerdings üblich, da Skelettüberreste selten sind.

Konkret nahmen sich Wissler und Dewitte die Knochenhaut der Schienbeine genauer unter die Lupe. Befindet sich die Knochenhaut im Heilungsprozess oder ist bereits verheilt, war die Person vor ihrem Tod wahrscheinlich gesund. Ist die Knochenhaut hingegen beschädigt, deutet dies auf bestehende Verletzungen oder Infektionen hin. Deshalb sind diese Läsionen ein häufig verwendeter Indikator für Vorerkrankungen.

Das Bild der Spanischen Grippe gerät ins Wanken

Die kürzlich veröffentlichten Forschungsergebnisse zeigen: Ist die Knochenhaut beschädigt, liegt das Sterberisiko deutlich höher – und zwar unabhängig davon, ob die Person vor oder während der Pandemie von 1918 starb.

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Archiv: Als die Spanische Grippe wütete
aus Sinerzyt vom 01.12.2020. Bild: SRF
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Soll heissen, dass Vorerkrankte entgegen der weit verbreiteten Annahme auch während der Pandemie ein höheres Sterberisiko hatten. So hatten sie während der Spanischen Grippe ein 2.7-mal grösseres Sterberisiko als ihre gesunden Zeitgenossinnen und -genossen. Die Untersuchungen von Wissler und Dewitte legen also nahe, dass auch diese Pandemie primär Gebrechliche in den Tod riss.

Wieso sich das Bild der Spanischen Grippe bis heute hält

Dass die Spanische Grippe Personen mit Vorerkrankungen besonders stark traf, steht im Einklang mit Beobachtungen aus jüngeren Pandemien. Widerspiegelt dies doch, was wir mit COVID-19 erleben: Die meisten Todesfälle treffen nicht gesunde Junge, sondern über 65-Jährige. Trotzdem gilt die Grippe von 1918 noch immer als eine, an der besonders viele Gesunde starben. Wie lässt es sich erklären, dass sich dieses Bild so lange halten konnte?

Wissler und Dewitte überrascht es nicht, dass zeitgenössische Beobachtungen und Berichte ein solches Bild vermitteln. Schliesslich forderte die Spanische Grippe unverhältnismässig viele gesunde, junge Todesopfer. Das war einprägsam und einschneidend für Familien- und Arbeitsleben. Nichtsdestotrotz hatten wohl auch bei dieser Grippe Gesunde die besseren Karten als Vorerkrankte.

SRF 4 News, 16.10.2023, 16:05 Uhr

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