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Bluthochdruck – Die Krux mit dem Grenzwert
Aus Puls vom 20.08.2018.
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Streit um Grenzwerte Volkskrankheit Bluthochdruck: Ab wann gilt man als krank?

Die Pumpgeräusche bei der Blutdruck-Messung kennt wohl jeder. Schliesslich handelt es sich um eine Routineuntersuchung in der Arztpraxis. Doch trotz dieser breiten und langjährigen ärztlichen Erfahrung mit dieser Untersuchung: Um die Werte, die daraus resultieren, herrscht Verwirrung. Wie viel Blutdruck ist zu viel? Da ist sich die Fachwelt uneins.

An einem zu hohen Blutdruck leidet etwa jeder vierte Erwachsene in der Schweiz – also rund 1,5 Millionen Menschen. Wer davon betroffen ist und wer nicht, entscheiden Leitlinien, an welche sich praktizierende Ärzte halten sollten. Die darin enthaltenen Grenzwerte, ab wann jemand als krank gilt, sorgen unter Ärzten seit Jahren immer wieder für Diskussionen.

Wissenswertes über den Blutdruck

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Dieser Wert gilt: Der obere Druck ist der wichtigere Wert. Liegt er über 140, gilt man als Bluthochdruck-Patient.

140/90 – die zwei Werte kurz erklärt: Zieht sich das Herz zusammen, pumpt es neues Blut in die Gefässe. Dann steigt der Druck an, auf den oberen oder systolischen Blutdruck. Optimalerweise liegt er zwischen 100 und 140.

Entspannt sich das Herz um sich mit neuem Blut zu füllen, fällt der Druck kurz ab. Dieser Druck ist der untere Blutdruck-Wert, auch diastolischer Blutdruck genannt. Er fällt nie auf Null, denn feine Muskeln in den Arterienwänden sorgen dafür, dass ein gewisser Druck bestehen bleibt und das Blut im Kreislauf weiter fliessen kann. Dieser Wert kann vernachlässigt werden.

Vorgängige Anzeichen: Bluthochdruck entwickelt sich meist langsam, ohne dass Betroffene etwas davon merken. Sie haben keine Symptome und Beschwerden. Nur sehr hohe Blutdrücke sorgen für Kopfschmerzen, Sehstörungen, Schwindel, Müdigkeit oder Ohrensausen.

Mögliche Folgen: Im Vergleich zu Personen mit normalem Blutdruck erleiden Menschen mit unbehandeltem Bluthochdruck doppelt bis zehnmal so häufig einen Hirnschlag, Herzinfarkt oder entwickeln eine Herzschwäche. Denn stetiger Bluthochdruck schädigt die Blutgefässe und belastet das Herz.

Die dem hohen Druck ausgesetzten Arterien verdicken und verhärten. Fette, Kalk und Entzündungszellen lagern sich ab und bilden sogenannte Plaques. Sie verengen das Gefäss und schränken die Durchblutung ein. Das kann zu einer Unterversorgung mit Sauerstoff führen. Bricht ein Plaque auf, kann sich an dieser Stelle ein Blutgerinnsel bilden. Das dahinter liegende Gewebe erhält keinen Sauerstoff mehr und stirbt ab. Geschieht dies im Gehirn, erleidet man einen Hirnschlag, verschliessen sich die Herzkranzgefässe kommt es zum Herzinfarkt. Beide Krankheiten verändern das Leben drastisch. Viele Betroffenen sind danach körperlich stark beeinträchtigt oder sterben sogar. Wird der Bluthochdruck behandelt, lassen sich Herzinfarkt und Co. vermeiden.

Deshalb steht das Blut unter Druck: Ein gewisser Blutdruck ist lebenswichtig, damit das Blut durch die Blutgefässe zu den Organen und zum Gewebe fliessen kann. Organe wie das Gehirn müssen dauernd mit Blut versorgt sein, selbst wenn sie höher liegen als das Herz.

Deshalb schwankt der Blutdruck: Hormone, Aufregung und Nervosität, körperliche Aktivität oder psychische Belastung wie Stress, Schmerzen, oder Angst können den Blutdruck ansteigen lassen. Auch über den Tag verteilt ist er nicht immer gleich hoch. Morgens nach dem Aufstehen steigt er an, nachmittags sinkt er und abends steigt er wieder an. Nachts ist er am niedrigsten.

Höhere Werte beim Arzt: Viele Patienten haben höhere Messwerte beim Arzt. Dieses Phänomen nennt sich Weisskittel-Hypertonie. Sie ist darauf zurückzuführen, dass Patienten häufig etwas nervös sind, wenn sie zum Arzt müssen. Deshalb ist es ratsam, den Blutdruck auch selber zu Hause zu messen. Auch eine 24-Stunden-Messung ist eine Alternative. Dazu erhält der Patient ein portables Gerät mit Armmanschette mit nach Hause.

Je nachdem, in welchem Land man lebt, greifen Ärzte unterschiedlich schnell zu Medikamenten. Die Amerikaner haben den Grenzwert vor knapp einem Jahr auf den historisch tiefsten Wert gesenkt: auf einen Blutdruck von 130/80. Die Kritik an den neuen Grenzwerten war laut. Denn über Nacht sind in den USA mehr als vierzig Millionen Menschen zu Blutdruck-Patienten geworden, von denen nun vier Millionen Medikamente schlucken müssen.

Die Grundlage für die Anpassung in den USA ist eine gross angelegte Studie namens Sprint. Sie hat auch Europa unter Zugzwang gesetzt. Auch die Europäische Leitlinienkomission hat eine neue Version ausgearbeitet. Sie wird am 25. August am Europäischen Kardiologenkongress veröffentlicht.

Was man gegen einen hohen Blutdruck tun kann

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Bei zwei von drei Patienten mit Bluthochdruck findet man keinen Grund für die erhöhten Werte. Allerdings gibt es mehrere Faktoren, die den Blutdruck erhöhen können. Die bedeutendsten zwei Risikofaktoren sind Alter und Vererbung. Diese sind nicht beeinflussbar. Aber auch Rauchen, Übergewicht, ein zu hoher Salzkonsum, Alkohol, gewisse Medikamente, Bewegungsmangel und Stress beeinflussen den Blutdruck. Diese Faktoren sind beeinflussbar. Deshalb kann ein gesunder Lebensstil den Blutdruck normalisieren:

  • Übergewicht reduzieren
  • Weniger Salz essen
  • Weniger Alkohol konsumieren
  • Sich ausgewogen ernähren
  • Regelmässige Bewegung
  • Stress abbauen
  • Das Rauchen aufgeben
  • Hormonhaltige Medikamente von Arzt überprüfen lassen

Plötzlich mehr Medikamente schlucken

Ein erster Einblick zeigt: Die Europäer wollen nicht ganz so weit gehen, wie die Amerikaner. Sie halten am bisherigen Wert von 140/90 fest. Sprich: In Europa wird es nicht plötzlich mehr Blutdruck-Patienten geben.

Doch einen Punkt passen sie an die amerikanischen Richtlinien an: Wer behandelt wird, soll neu einen tieferen Blutdruck erreichen. Dieser sogenannte Zielwert soll statt 140/90, 130/80 sein. Dafür müssen Patienten nun mehr Medikamente schlucken.

Laut Franz Messerli, Kardiologe am Inselspital in Bern, ist unwahrscheinlich, dass hinter diesem Wechsel die Pharmalobby steckt. Denn die meisten Patente auf Blutdruck-Medikamente sind ausgelaufen. Mittlerweile gibt es günstige Generika auf dem Markt. Mit Blutdruck-Senkern ist also kein grosses Geld mehr zu verdienen.

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Kardiologe Franz Messerli: «Die Pharmalobby steckt kaum dahinter.»
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Bedenklich für ältere gebrechliche Patienten

Das Problem mit den neuen Richtlinien: Nicht allen tut ein so tiefer Blutdruck gut. Ältere und gebrechliche Patienten könnten sogar Schaden nehmen. Ihr Problem: «Sie leiden oft an einer sogenannten orthostatische Hypotonie. Das ist ein Blutdruckabfall nach dem Aufstehen», sagt Andreas Schönenberger, Geriater im Berner Spital Tiefenau. Bei zu niedrig eingestelltem Blutdruck drohe den Betagten Schwindel und Ohnmacht. Dies kann zu Stürzen und zu Brüchen führen, und gebrechliche Menschen etwa dauerhaft bettlägerig machen.

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Geriater Andreas Schönenberger: «Nach dem Aufstehen haben gebrechliche Menschen häufig einen Blutdruckabfall.»
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Dies zeigt auch eine neue Studie von Sven Streit, Hausarzt und Professor am Berner Institut für Hausarztmedizin. Dafür hat er rund 600 Patienten über fünf Jahre begleitet. Und: Er hat weitere Nachteile aufgedeckt, die auftreten können, wenn der Blutdruck bei älteren, gebrechlichen Menschen gesenkt wird: «Je tiefer ihr Blutdruck ist, desto schlechter ist ihr Gedächtnis, und auch die Sterblichkeit nimmt zu.»

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Hausarzt Sven Streit: «Das Demenzrisiko und die Sterblichkeit erhöhen sich bei zu tiefem Blutdruck.»
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Neue Richtlinien auch in der Schweiz

Eine weitere Studie von Streit hat gezeigt, dass dieses Wissen, wie gebrechliche Patienten zu behandeln sind, unter Hausärzten in Europa nicht gleich verbreitet ist. Länder, in denen häufiger über 80-Jährige leben, sind im Vorteil. Sie scheinen mehr Erfahrung zu haben. Schweizer Ärzte wissen gemäss seiner Studie gut Bescheid.

Weil Blutdruckgrenzwerte gerade im Alter individuell festgelegt werden müssen, wehren sich praktizierende Ärzte gegen fixe tiefe Werte, wie sie aktuell in Amerika gelten.

Auch die derzeit geltenden Richtlinien in der Schweiz berücksichtigen individuelle Fälle nicht. «Mir wäre es ein wichtiges Anliegen, dass Richtlinien genau differenzieren, welche Patienten man mit tiefen Zielwerten einstellen soll und welche nicht. Bisher ist das viel zu ungenau definiert», sagt Andreas Schönenberger. Die Schweizer erneuern ihre Leitlinien im November.

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Geriater Andreas Schönenberger: «Mir ist es ein Anliegen, dass Richtlinien genau differenzieren.»
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