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Tabu Colitis Ulcerosa Kranksein 1990 und 2020: Früher allein, heute online

Zwei Menschen, ein chronisches Leiden. Wie sich der offene Umgang damit in den letzten drei Jahrzehnten gewandelt hat.

Manche Krankheiten eignen sich einfach nicht für Tischgespräche. Colitis Ulcerosa zum Beispiel.

Die Diagnose «chronische Darmentzündung» eint Lene Lehmann und Robin Rehmann. Die Krankheit hat beider Leben grundlegend verändert, ihnen einen künstlichen Darmausgang beschert – und beide dazu bewegt, sich öffentlich für einen unverkrampfteren Umgang mit dem Thema einzusetzen.

Was die beiden trennt: 30 Jahre und eine technologische Revolution.

Als Lene Haldemann in der ersten «Puls»-Sendung am 30. August 1990 freimütig über ihr Leben mit der chronischen Darmkrankheit berichtete, waren das Internet und die weltumspannende Kontaktpflege mit anderen Betroffenen bestenfalls Science Fiction.

Telefone hatten Wählscheiben, Dokumente wurden per Post oder Fax verschickt, Anrufe übers Festnetz getätigt. E-Mail? Podcasts? Onlineforen? Keine Spur. Wer Informationen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen wollte, schrieb ein Buch, veröffentlichte Artikel in Zeitschriften oder verteilte Flugblätter.

Oder wagte sich ins Fernsehen. Wie Lene Haldemann, die vor 30 Jahren ohne Tabu vom Alltag mit dem künstlichen Darmausgang sprach, der das Leben mit dem entzündlichen Darm erträglich machte: «10 bis 20 Mal am Tag auf die Toilette, Schmerzen und häufige Spitalbesuche – dagegen ist ein Stoma wirklich keine Behinderung.»

20 Jahre später zeigte sich sogar vor laufender Kamera, wie sie den Stomabeutel austauscht und meinte dazu im Plauderton: «Zum Teil ist das schneller als sich aufs WC zu setzen.»

Heute ist Lene Haldemann 65 Jahre alt. Und wieder lässt sie sich vom Gesundheitsmagazin «Puls» beim speziellen Toilettengang filmen. Wie schon früher nicht etwa aus Freude am Fernsehauftritt, sondern weil sie findet, «dass es eine Aufklärung der Bevölkerung braucht. Dass es das gibt und dass es nicht so schlimm ist, wie man sich das vorstellen mag.»

Der Stomabeutel wird routiniert gewechselt, das herausragende Stück Darm ohne grosse Umstände wieder eingepackt.

Bilder, die früher noch für Aufsehen sorgten. Heute filmen sich Betroffene selbst und teilen ihr Schicksal übers Internet mit Menschen auf der ganzen Welt. So wie der Blogger und Radiomoderator Robin Rehmann.

Er leidet an derselben Darmkrankheit und gewährt auf der Videoplattform Youtube tiefe Einblicke in sein Leben mit Colitis Ulcerosa – mit der Möglichkeit, direkt mit ihm kommunizieren zu können.

Erfahrungen teilen, Angst nehmen

«Mir geht es vor allem um den persönlichen Austausch mit anderen Betroffenen», sagt Robin Rehmann. Als er seine Diagnose frisch erhalten hatte, ist ihm so von erfahrenen Kranken extrem geholfen worden.

«Das möchte ich auch für andere Menschen tun, die neu diagnostiziert sind.» Indem er aus seiner Sicht erzählt, was er alles erlebt und durchgemacht hat.

Verglichen mit 1990 bieten die sozialen Medien Patientinnen und Patienten heute ganz andere Chancen: Früher war die Suche nach einer Selbsthilfegruppe und der Austausch mit deren Mitgliedern umständlich und zeitraubend. Heute kann jede und jeder seine Krankheitsgeschichte aller Welt erzählen und ist in beliebiger Form und Ausführlichkeit präsent. 24 Stunden am Tag. 365 Tage im Jahr.

Wichtiger Schritt vor 30 Jahren

Diesen intensiven Austausch mit anderen Betroffenen hat Lene Haldemann nicht gekannt. Aber dass sie damals öffentlich und ohne Hemmungen über die Krankheit sprach, war in Rehmanns Augen ein echter Meilenstein.

«Da hat Frau Haldemann einen wichtigen Beitrag geleistet. Sie ist damit zum Fernsehen gegangen, hat eine Selbsthilfegruppe gegründet – all das hat es gebraucht, damit wir heute da sind, wo wir sind.»

Auch wenn das Ziel noch nicht ganz erreicht sei, öffentlich zu seiner Krankheit stehen zu können, ohne komische Blicke zu ernten. «Aber da kommen wir noch hin», ist Robin Rehmann überzeugt.

Auf dem Weg dahin braucht es ab und zu ausgefallene Aktionen, um Aufmerksamkeit für die Sache zu erreichen. Zum Beispiel den Aufruf zu einem «Stoma-Wechsel-Weltrekordversuch», wie ihn der Radiomoderator in einem seiner 250 Youtube-Videos inszeniert hat.

Auch wenn Lene Haldemann eine Art Robin Rehmann der 90er Jahre war: Sich so im Internet zu zeigen, ist nicht ihre Welt. Zu viel Show. Zu viel Trara. «Aber wenn der Stoma-Therapeut im Spital Zofingen mal jemanden braucht, würde ich mich natürlich zur Verfügung stellen.»

«Die Krankheit zu verstecken, wäre eine zusätzliche Belastung»

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SRF: Robin Rehmann, Du berichtest seit Jahren regelmässig im Radio und auf Social Media über Deine Krankheit und Deine Gefühle. Wie hat Dein Umfeld reagiert, als Du dich das erste Mal so exponiert hast?

Robin Rehmann: Sie haben es verstanden, denn ich konnte es ja nicht verstecken. Wenn man jeden Tag 30 Mal aufs WC muss, eigeschränkt ist und nicht mehr die volle Leistung erbringen kann, macht es wenig Sinn, das verstecken zu wollen. Das wäre eine zusätzliche Belastung gewesen. Ich wusste: Ich muss und will dazu stehen. Denn das bin ja ich.

Urte Scholz, Sie forschen an der Universität Zürich über soziale Interaktion im Gesundheitsverhalten. Was ist denn aus Forschungssicht besonders positiv an dem Trend, in den sozialen Medien derart offen über seine Krankheit zu berichten?

Urte Scholz: Aus Forschungssicht ist es ein vorsichtiges Rollenmodell, dass man anderen, die auch betroffen sind, eine Information gibt, aufklärt. Aber auch zeigt, dass man damit leben kann . Und wie man damit vielleicht umgeht.

Gibt es denn auch negative Auswirkungen oder Gefahren?

Urte Scholz: Die gibt es sicher auch. Beispielsweise, dass man auch Rückmeldungen erhält, die weniger positiv sind und das dann nicht so gut verkraftet, weil man ja eh stark belastet ist durch die Krankheit. Oder dass man Falschinformationen erhält, wie man mit der Krankheit umzugehen habe.

Robin, wie geschlossen ist denn die Community? Schauen auch gesunde Leute Deine Sendung und Deine Podcasts?

Robin Rehmann: Ja, auf jeden Fall. Es ist ja immer schwierig, wenn jemand im familiären Umfeld so eine Diagnose erhält. Da weiss man im ersten Moment nicht, wie damit umgehen. Ich glaube, es ist an jedem Einzelnen, sich da zu informieren, was es für Krankheiten gibt und wie sich die Menschen fühlen, die damit konfrontiert sind.

Und vielleicht ist es nicht so einfach, mit einer betroffenen Person zu reden, mit der man in einer engen Beziehung steht. Da kann es helfen, sich online zu informieren, Geschichten von Betroffenen zu sehen und zu hören. Damit man weiss, womit man es zu tun hat.

Puls, 31.08.2020, 21:05 Uhr

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