Tag der seltenen Krankheiten - In den Augen der Mutter ist Gabriel eine Wundertüte – nicht krank
In der Schweiz leiden mehr Menschen an seltenen Erkrankungen als an Diabetes. Trotzdem stossen Eltern von beeinträchtigten Kindern häufig an die Grenzen des Systems. Über das Leben mit Wolf-Hirschhorn-Syndrom.
Für Gabriel Scherrer ist die Welt ein Parcours. Der Fünfjährige zieht sich an der Hand der Mutter die Treppe hoch. «Mami» hat er sie noch nie genannt, sprechen kann er nicht. Gabriel ist mit dem Wolf-Hirschhorn-Syndrom geboren, einer seltenen Entwicklungsstörung.
Nur neun Stunden auf der Welt durchbebt Gabriel ein Krampfanfall. «Als frisches Mami will man nicht hören, dass etwas nicht stimmt», sagt Bettina Scherrer. Das Genetikteam am Kinderspital Zürich lag früh richtig, sie erkannten die seltene Krankheit an Gabriels Gesicht.
Die 36-Jährige erinnert sich an die Schläuche, an die ihr Kind nach der Geburt angeschlossen war: «Wir waren überfordert, wollten nur nach Hause.» Erst nach zehn Monaten testeten die Eltern Gabriels Blut auf die Genveränderung.
Das Wolf-Hirschhorn-Syndrom
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In der Schweiz haben etwa 15 bis 20 Menschen das Wolf-Hirschhorn-Syndrom, wie Neurologin Andrea Rüegger vom Kinderspital Zürich schätzt. Betroffene sind in ihrer Entwicklung stark verzögert, weil sie eine Chromosomenveränderung haben. Sie zeigen typischerweise eine kleine Körpergrösse, einen kleinen Kopf sowie Auffälligkeiten des Gesichts.
Zum Krankheitsbild gehören Herzfehler, Krampfanfälle, Lippen- oder Gaumenspalten, Hör- und Augenprobleme. Nur ganz wenige können einfache Sätze bilden, die meisten Betroffen sprechen nur zwei Silben.
In fast allen Fällen tritt das Syndrom neu auf und wird nicht von den Eltern vererbt. Die meisten Betroffenen des Wolf-Hirschhorn-Syndroms erreichen das Erwachsenenalter.
Wer Bettina Scherrer zuhört, hat den Eindruck: Wer in der Schweiz ein beeinträchtigtes Kind bekommt, muss kämpfen. «Ich hatte kaum die Kraft, die Infos reinzuholen», erzählt sie.
Oft habe sie sich allein gefühlt. Wie geht es weiter? Welche Therapie ist die richtige? Wer übernimmt die Kosten? Das Schweizer Gesundheitssystem wird für betroffene Eltern schnell zum Labyrinth. Dazu kommt die ständige Angst ums Kind.
Eine Prognose ist schwierig
Nach einem schweren Krampfanfall, da ist Gabriel vier Jahre alt, kommt er zur Neurologin Andrea Rüegger ins Kinderspital Zürich. Sie verschreibt ihm Medikamente gegen Epilepsie.
Pro Woche behandelt Rüegger etwa zwei Kinder mit seltenen Erkrankungen. Neben Gabriel hat noch ein weiterer ihrer Patienten das Wolf-Hirschhorn-Syndrom. Auch wenn sie das Krankheitsbild kennt, stellt sich die Ärztin auf jedes Kind neu ein – denn wie sich die Kinder genau entwickeln werden, lässt sich nicht vorhersagen.
Rüegger freut sich über Gabriels Fortschritte, dass er jetzt etwa mit dem Laufrad fahren kann: «Man muss aber sagen, die kognitive und auch sprachliche Entwicklung ist weit zurück. Ich gehe davon aus, dass er in allen Belangen in Zukunft auf Unterstützung
angewiesen sein wird.»
Seltene Krankheiten in der Schweiz
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Laut Bundesamt für Gesundheit
sind fünf bis acht Prozent der Schweizerinnen und Schweizer von einer seltenen Krankheit betroffen, also über eine halbe Million Menschen. Die Hälfte davon sind Kinder.
Selten ist eine Erkrankung dann, wenn höchstens fünf von 10'000 Menschen daran leiden. Etwa 6000 bis 8000 verschiedene seltene Erkrankungen sind bekannt. Nicht nur genetische Erkrankungen zählen dazu, auch seltene Infektionen oder Autoimmunerkrankungen.
Die Berichte aus dem Spital liest Bettina Scherrer nicht mehr: «Medizinisch steht da viel, was mit meinem Sohn nicht stimmt. Im Alltag erlebe ich ihn anders.»
Sie tut alles für Gabriels Entwicklung. «Es wäre schön, wenn der Bund mehr ermöglicht – bei vielen Kindern ist Potenzial da.» Was ihr als Angebot fehlt, ist eine allumfassende Therapie, die Rehazentren hätten zu wenig Kapazität. Also hat sich die Familie Scherrer für die Therapie «First Steps» aus Israel entschieden. Das kostet sie über 20'000 Franken im Jahr. Ihr Mann ist Hauswart, sie Coiffeuse. Ferien liegen da keine drin.
Bettina Scherrer organisiert ihrem Sohn Reittherapie, stellt Anträge bei der IV, streitet mit Behörden. Zum Beispiel um einen Platz im Kindergarten.
Weil ihre Heimatgemeinde Gabriels Entwicklung nicht abwarten will, sondern den Bub im heilpädagogischen Kindergarten sieht, sucht die Mutter der Familie ein neues Zuhause. Die Nachbargemeinde stimmt zu, das beeinträchtigte Kind ein Jahr zurückzustellen. In der Hoffnung auf bessere Integration zügeln die Eltern.
Bis dann übt sie jeden Tag mit ihm, beim Mittagessen schiebt er die Gabel mit Hörnliauflauf schon allein in den Mund. Ob Gabriel mal rechnen und lesen wird? Bettina Scherrer glaubt daran: «Du bist eine Wundertüte», sagt sie zu Gabriel und ihr Sohn strahlt sie an.
Hilfsangebote bei einer seltenen Krankheit
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Nicht immer haben Betroffene so schnell Gewissheit über ihre Krankheit wie die Eltern von Gabriel. Diese Hilfsangebote gibt es:
Die Kranken- oder Invalidenversicherung finanziert unterschiedliche Therapien, im Fall von Gabriel zum Beispiel heilpädagogische Frühförderung, Craniosacral-Therapie, Physiotherapie, Logopädie und Reittherapie. Mit
«Was steht meinem Kind zu?»
hat Procap, der Verein für Menschen mit Behinderungen, eine Übersicht über die Leistungen der Sozialversicherungen zusammengestellt.
Auf der
Wissensplattform
des KMSK finden Betroffene per Stichwortsuche Informationen und Hilfsangebote. Aufgebaut hat das Angebot der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten.
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