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Trend zum Alkoholverzicht Mindful Drinking: die neue Nüchternheit

Immer mehr Menschen verzichten ganz oder teilweise auf Alkohol. Ist das Trinken bald genauso out wie das Rauchen?

Jessica ist im vierten Monat. Nicht schwanger, sondern ohne Alkohol. Sie wollte ihn nicht mehr in ihrem Leben haben: «Es gab wenige Abende, an denen ich nicht getrunken habe», erzählt die 32-Jährige.

Gross Gedanken über ihren Alkoholkonsum hatte sie sich nie gemacht. Bis sie auf einen Artikel über die Freiheit der Nüchternheit stiess und sich fragte: Warum trinke ich eigentlich?

Mehr als nur Mocktails

Diese Frage stellen sich offenbar immer mehr Menschen, vor allem junge, urbane  – und auffällig viele Frauen. Sie vernetzen sich auf Instagram und bleiben gemeinsam nüchtern, etwa im #DryJanuary. Gerade befinden wir uns im #SoberOctober – dem nüchternen Oktober.

Cocktail mit Eis und Apfelschnitzen, daneben Zimtstangen
Legende: Alkoholfreie Cocktailkreationen werden immer beliebter. Das Angebot ist so vielfältig wie lecker – wie wohl dieser Drink mit Äpfeln und Zimt schmeckt? Getty Images/Ekaterina Fedulyeva/EyeEm

Auch im Einzelhandel sind die Veränderungen spürbar: Der Absatz an alkoholfreiem Bier und Wein steigt seit Jahren. Immer mehr Cocktail-Bars bieten alkoholfreie Varianten an, die sich nicht mehr als «Mocktails» verlachen lassen müssen, sondern es geschmacklich locker mit ihren alkoholhaltigen Pendants aufnehmen können.

#SoberOctober, #SoberCurious – Jessica kennt die Bewegung hinter den Hashtags: «Ich habe diese Leute immer eher belächelt», erzählt sie. Den Alkohol habe sie sich nicht nehmen lassen wollen.

«Trinken ist dermassen mit Genuss, Spass und Lebensfreude verknüpft», sagt sie. «Du trinkst, wenn es dir schlecht geht, und wenn es dir gut geht auch.» Das wollte sie auf keinen Fall missen.

Die Leiden der Leber

Doch dann kam sie ins Grübeln: «Wenn du dich mit den gesundheitlichen Folgen auseinandersetzt, verstehst du, was der Alkohol im Körper anrichtet. Etwa, dass du morgens um drei Uhr wach im Bett liegst, weil die Leber wie verrückt arbeitet. Da wollte ich wissen, was passiert, wenn ich ihn weglasse.»

Auch die Autorinnen und Autoren von Büchern wie «Mindful Drinking», «Nüchtern – über das Trinken und das Glück» oder «Quit like a woman» haben sich kritisch mit ihrem eigenen, teils exzessiven, Trinkverhalten auseinandergesetzt.

Sie alle treibt die gleiche Frage um: Wieso akzeptieren wir, dass in unserer Gesellschaft zu jeder Gelegenheit Alkohol getrunken wird, und ignorieren gleichzeitig sein zerstörerisches Potenzial?

Viele trinken zu viel

Der Grossteil der Menschen hat ein entspanntes Verhältnis zum Alkohol. Doch rund jede fünfte Person in der Schweiz trinkt laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) missbräuchlich. Das heisst, sie trinkt regelmässig zu viel, oder zu oft oder zur falschen Zeit. Dabei handelt es sich nicht um schwer alkoholkranke Menschen, sondern um solche, in deren Leben der Alkohol eine wichtigere Rolle einnimmt, als er sollte.

Frau in Blazer sitzt an Bar unt trinkt einen alkoholfreien Cocktail
Legende: Feiert lieber ohne: Die Journalistin Maria Brehmer trinkt seit einiger Zeit keinen Alkohol mehr – und fühlt sich nach eigener Angabe besser als je zuvor. Severin Bigler/CH Media

«Diese seelische Abhängigkeit entwickelt sich relativ schnell», sagt Maria Brehmer. Die Journalistin beschäftigt sich schon lange mit dem Thema und coacht Menschen, die ihr Trinkverhalten ändern wollen.

«Kritisch wird es, wenn aus dem Genuss ein Verlangen entsteht. Wenn man mit Alkohol bestimmte Situationen verbindet, seinen Kalender danach ausrichtet oder ihn sogar braucht, um gewisse Situationen zu bewältigen.»

Erprobtes Mittel gegen Stress

Es kann lange dauern, bevor Betroffene merken, dass sie ein Problem haben könnten. Schliesslich ist es normal, Alkohol zu trinken, und es gibt ständig Gelegenheit dazu: der Prosecco an jedem Geburtstag, der Cocktail beim After-Work-Event, das Glas Rotwein beim Dinner unter Freunden oder als Mittel gegen Stress.

Wir belohnen uns mit Alkohol und trösten uns mit ihm. Und häufig bleibt es nicht bei einem Glas.

Allzu oft ist es einfacher, Alkohol zu trinken, als ihm aus dem Weg zu gehen. Das merkt Jessica stark, seit sie verzichtet: «Mir fällt jetzt erst auf, wie oft man, ohne gefragt zu werden, einen Prosecco in die Hand gedrückt bekommt.»

Lehnt sie ab, denken die Leute häufig, sie sei schwanger – was für einen anderen Grund könnte es geben? Mittlerweile füllt Jessica ihr Wasser einfach in ein Weinglas. Am einfachsten ist ihrer Erfahrung nach ein alkoholfreies Bier, die Flasche fällt weniger auf.

Vorurteile gegen Nicht-Trinker

Menschen, die nicht trinken, erregen oftmals Argwohn. Wer aufhört, zu rauchen, wird gefeiert. Wer aufhört zu trinken, der hat wohl ein Problem mit Alkohol.

Das sei problematisch, erklärt Alkoholfrei-Coachin Maria Brehmer, «denn eigentlich ist es ja andersherum: Wer aufhört, hat kein Problem mehr mit dem Trinken. Oder ein viel Kleineres».

Alkohol: Warum unser Gehirn immer mehr will

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Alkohol setzt als psychoaktive Substanz im Belohnungssystem an und sorgt dafür, dass wir diese schnelle Belohnung immer wieder suchen.

Während wir trinken, läuft im Gehirn ein Dialog zwischen zwei Hirnregionen ab: Das limbische System steuert tief im Gehirn unsere Emotionen und Triebe. Dort produziert der Alkohol ein Wohlgefühl und das Verlangen, das Trinken zu wiederholen.

Beobachtet wird das vom präfrontalen Cortex, der direkt hinter den Augen sitzt. Er übernimmt das strategische Denken: Macht der Drink jetzt noch Sinn? Oder gibt das morgen Probleme?

Die meisten können Mass halten. Doch bei Menschen, bei denen die Kontrollinstanz nicht so gut funktioniert, gestaltet sich der Alkoholgenuss immer impulsiver.

Wie anfällig wir dafür sind, ist Veranlagung und hat nichts mit Schwäche zu tun. Die Gene spielen eine Rolle, aber auch unser Umfeld, psychische Erkrankungen wie Depressionen, oder ob wir Traumata erleben mussten.

Der eher leichtfertige Umgang mit Alkohol wird uns oftmals schon als Kinder eingeprägt. Die Forschung zeigt: Wer damit aufwächst, dass es normal ist, dass sich die Erwachsenen ab und an betrinken, oder die Eltern jeden Abend mit dem Weinglas sieht, hat selbst ein höheres Risiko, als Erwachsener zur Flasche zu greifen.  

Schädlicher als Heroin

Das Problem dabei: Alkohol ist im Vergleich zu anderen Drogen besonders gefährlich. 2010 zeigte eine Studie des britischen Drogenforschers David Nutt , dass Tabak, Heroin oder Kokain zwar schneller abhängig machen, Alkohol aber einen viel grösseren Schaden anrichtet.

Nutt und sein Team sahen sich verschiedene Drogen an und bewerteten deren Auswirkungen auf die Gesundheit und Psyche, aber auch die sozialen und wirtschaftlichen Folgen. Dabei berücksichtigten sie die individuellen Konsumenten genauso wie das gesellschaftliche Umfeld.

Ihr Ergebnis war eindeutig: Von allen Drogen ist Alkohol die schädlichste – und zwar mit Abstand.

Mythos Rotwein

Und was ist mit dem empfohlenen Glas Rotwein, das die Durchblutung fördern und vor Herzkrankheiten schützen soll?

Wie viel Alkohol am Tag gesund ist, ist wohl eine der am häufigsten untersuchten Fragestellungen. Aber so sehr viele sich vielleicht etwas anderes wünschen, die Anzahl der Drinks, die noch als gesund durchgehen, sinkt mit jeder weiteren Studie. Jede neue Veröffentlichung zeigt deutlicher: Am gesündesten ist kein Alkohol.

Mann mit Brille und Arztkittel posiert an einem Schreibtisch
Legende: Stellt die Risiken des Alkoholkonsums in den Vordergrund: Der deutsche Forscher Helmut K. Seitz veröffentlichte 2018 das Sachbuch «Die berauschte Gesellschaft» (Penguin Random House). ©Heike Engel

«Wir wissen, dass Alkohol für über 200 Krankheiten und Organschäden verantwortlich ist, wir wissen, dass Alkohol krebserregend ist», schreibt der deutsche Alkoholforscher Helmut K. Seitz in seinem Buch «Die berauschte Gesellschaft».

Konsum sei immer mit einem Risiko verbunden. Jede Person müsse für sich entscheiden, ob sie es eingehen wolle.

Tennis statt Kater

Doch Leberwerte, Krebsrisiko oder die Frage, wie alt man wird, seien keine ausreichenden Motivatoren, um weniger zu trinken, sagt Maria Brehmer. Bei den meisten gebe eine simple Frage den Ausschlag: Hast du das Gefühl, es würde dir merklich besser gehen, wenn du nicht mehr trinkst? «Kommt dann wie aus der Pistole geschossen ‹ja natürlich›, ist der erste Schritt gemacht.»

Jessica empfindet ihren Beschluss als Befreiung: «Ich habe viel mehr Energie, bin körperlich fitter und schlafe besser. Es ist ein gutes Gefühl, meinen Genuss, Spass oder meine Feierabendgefühle nicht mehr vom Alkohol abhängig zu machen.»

Sogar ihre Agenda sei freier, weil sie sich nicht mehr nach dem Alkoholkonsum ausrichtet: «Wenn ich früher am Freitagabend verabredet war, habe ich mir sicher kein Tennisspiel auf den Samstagmorgen gelegt.» Heute spielt sie.

Frau sitzt im Lotussitz auf Yogamatte und balanciert ein Bier
Legende: Yoga und Bier passen schlecht zusammen – und tatsächlich dürften immer mehr gesundheitsbewusste Menschen ihren Alkoholkonsum hinterfragen, prognostiziert Maria Brehmer. Imago Images/Addictive Stock

Brehmer glaubt, dass solche Überlegungen zunehmen: «Angeheitert meditieren, verkatert Yoga machen oder drei Aperol Spritz vor dem gesundheitsbewussten veganen Dinner – da merken viele, dass etwas nicht stimmt.»

Es ist also auch die logische Konsequenz eines sowieso schon gesunden Lebensstils, sich irgendwann zu fragen, ob dieser Drink jetzt wirklich sein muss. Das achtsame Trinken vollendet den achtsamen Lebensstil.

Im Zweifel lieber weniger

Wie gross die Lifestyle-Welle sein wird, die da unterwegs ist, muss sich noch zeigen. «Wir werden sicher keine Gesellschaft ohne Alkohol haben», erklärt Markus Meury von Sucht Schweiz. Dafür sei das Trinken ein zu wichtiger Teil unserer Kultur. Immerhin 80 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer trinken Alkohol.

Wieviel Alkohol ist gut für uns?

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2018 rüttelte eine Publikation im Fachjournal «The Lancet» auf, die 83 andere Studien unter die Lupe nahm: Die Menge Alkohol, die täglich ohne gesundheitliche Bedenken getrunken werden kann, ist deutlich geringer, als viele annehmen: Schon mehr als 1.25 Deziliter Wein am Tag sind mit einem Risiko für verschiedenste Erkrankungen verbunden.

Dieses Frühjahr erschien die bisher letzte viel beachtete Studie , die zeigt: Die gesundheitlichen Schäden fürs Herz-Kreislauf-System sind bei einem geringen Konsum von etwa einem Glas pro Tag zwar klein, nehmen aber mit steigender Menge überproportional zu.

Aber vielleicht machen wir zukünftig nicht mehr nur Sprüche übers Trinken, sondern sprechen auch offen über dessen Folgen.

Ansichten eines Bartenders

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Barkeeper mit Brille und grauem T-Shirt schüttelt einen Cocktailbecher
Legende: Luis Alberto Estrada Torres hat einige 4- und 5-Sterne-Bars geführt. Seit 2021 arbeitet er in der Bridge-Bar in Zürich, die mit dem Konzept «no and low alcohol» wirbt. Luis Alberto Estrada Torres

SRF: Funktioniert eine Bar, die mit weniger Alkohol wirbt?

Luis Alberto Estrada Torres: Unsere Bar liegt in einer Umgebung, in der sehr viele junge gesundheitsbewusste Menschen leben und arbeiten, auch viele Expats. Für die sind Bars, in denen es keinen Alkohol gibt, ganz normal. Das ist eine Welle aus verschiedenen Cocktail-Metropolen, die zu uns überschwappt.

Was mixen Sie ihnen?
Auch alkoholfreie Getränke müssen komplex und anspruchsvoll gemixt sein. Qualität spielt eine wichtige Rolle. Wenn jemand einen leicht alkoholhaltigen Drink bestellt und der nicht schmeckt, wird er oder sie beim Whiskey Sour bleiben.

Drinks ohne Alkohol werden oft als Mocktails verlacht. Zu Recht?
Alkoholfreie Drinks sind eine Herausforderung. Von der Aromatik her fehlt eine Komponente und der Alkohol bestimmt die Richtung. Fällt das weg, muss man schauen, dass der Drink noch spannend ist. Nicht zu süss, nicht zu wässrig, nicht zu leicht. Und natürlich: optisch attraktiv.

Was wird aus dem Bartender, dem die Kunden ihr Herz ausschütten?
Der bleibe ich. Aber warum müssen dafür die Drinks so stark sein? Wir wollen die Gäste behalten, aber wenn wir als Fachleute sie abfüllen, ist das für mich mittlerweile ein Widerspruch.

Eine ganze Gruppe Menschen versucht das, indem sie die Abstinenz aus dem Stigma der Schwäche und der Lustfeindlichkeit herauskatapultiert. Ihre Botschaft: Alkoholverzicht ist cool. Und allemal besser, als das Leben nach ihm auszurichten.

Clover Fizz – Rezept von Luis Alberto Estrada Torres

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Tumblerglas mit Drink
Legende: Luis Alberto Estrada Torres

50 ml Fluère Smoked Agave
10 ml Paragon Timur Berry
10 ml frischer Zitronensaft
10 ml Jsotta Bianco Senza 0% (ZH)
10 ml Gomme Sirup
1 dash Grapefruit Bitters

Alle Zutaten zusammen mit Eiswürfeln kurz kalt rühren.

Auf frische Eiswürfeln abseihen.

Mit einem Grapefruit-Schnitz dekorieren.

Radio SRF 2 Kultur, 100 Sekunden Wissen, 21.10.2022, 6:54 Uhr

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