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Guidelines – Im Dienst der Patienten oder der Pharma?
Aus Puls vom 06.01.2020.
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Umstrittene Guidelines Medizinische Leitlinien: Im Dienst der Patienten oder der Pharma?

Ärzte, die Leitlinien verfassen, haben häufig Interessenkonflikte. Ein Systemfehler zu Lasten des Patienten.

Medizinische Leitlinien bestimmen, wie ein Patient im Normalfall behandelt wird. Sinkt darin etwa ein Grenzwert, gelten zuvor gesunde Patienten plötzlich als krank und benötigen von einem Tag auf den anderen eine Therapie.

Daher sollten Leitlinien unabhängig von finanziellen Interessen der Pharmaindustrie entstehen. Dem ist aber oft nicht so. Bei Entstehung und Anpassung kommt es nicht selten zu Interessenkonflikten.

Definition medizinische Leitlinien

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«Es kommen jedes Jahr Tausende von Studien raus, kein Arzt kann das lesen», sagt Thomas Lempert, Neurologe und Gründer von Leitlinienwatch in Berlin. Deshalb ist es wichtig, dass ein Arzt auf Empfehlungen zurückgreifen kann, die auf den neusten Erkenntnissen basieren. Solche sogenannte medizinische Leitlinien geben einem Arzt eine Orientierung, wie ein durchschnittlicher Patient behandelt werden soll. So erhalten Patienten eine korrekte und einheitliche Behandlung.

Darüber hinaus beinhalten Leitlinien unter anderem auch Grenzwerte, die definieren, wann ein Patient Medikamente einnehmen sollte. Wird ein solcher Schwellenwert gesenkt, können bislang gesunde Menschen plötzlich als krank gelten.

Die Auswirkungen sind enorm, eine kritische Einordnung der Leitlinien wäre sinnvoll. Doch: Eine kritische Organisation wie Leitlinienwatch, existiert in der Schweiz nicht.

Ein Beispiel aus der Kardiologie

Eine Leitlinie gibt derzeit viel zu reden: Die Leitlinie für die Behandlung von Fettstoffwechselstörungen. In ihr wird unter anderem festgelegt, welche Patienten Cholesterin-Senker erhalten sollten, um einen Herzinfarkt vorzubeugen.

Die Europäische Fachgesellschaft für Kardiologie ESC hat die Leitlinie letzten August angepasst. Die wichtigste Änderung: Für Menschen mit erhöhtem Cholesterin-Spiegel und bestimmten Risikofaktoren wurde der Zielwert des LDL-Cholesterins im Blut noch weiter als bisher gesenkt. Und das auch bei Menschen, die noch gar keinen Infarkt hatten. So werden Menschen, die bislang als gesund galten, plötzlich als krank eingestuft – alleine durch den tieferen Schwellenwert in der Leitlinie.

Gemäss Thomas Rosemann, Direktor am Institut für Hausarztmedizin an der Universität Zürich wird die neue Leitlinie heftig diskutiert. Denn die neuen Grenzwerte seien nur noch mit zwei neuen, teuren Medikamenten der Hersteller Amgen und Sanofi zu erreichen. Dabei handelt es sich um sehr wirksame Antikörper, die besser als herkömmliche Medikamente wirken.

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Hausarzt Thomas Rosemann: «Diese Grenzwerte, die die Leitlinie vorgibt, sind für viele Menschen nur noch erreichbar mit dem Einsatz dieser neuen, teuren Medikamente.»
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Geschätzt 30'0000 Patienten würden diese bei einer konsequenten Umsetzung der Leitlinie hierzulande benötigen. Die Hersteller rechnen auf Anfrage vorsichtig mit 5000 Schweizer Patienten und damit mit 27 Millionen Franken Umsatz pro Jahr.

Finanzielle Verbindungen entdeckt

Leitlinienwatch, eine deutsche Vereinigung von Ärzten, die Leitlinien auf ihre Unabhängigkeit hin untersucht, hat die neue Leitlinie der ESC auf Interessenkonflikte geprüft: «Wir haben ein grosses Problem mit Interessenkonflikten entdeckt», sagt Thomas Lempert, Neurologe und Initiator von Leitlinienwatch. «Über 100 Experten haben daran mitgearbeitet, die Mehrzahl hatte finanzielle Verbindungen zu den Herstellern der teuersten Cholesterinsenker der neuen Generation der PCSK9 Hemmer.» Die Empfehlung: Rücknahme der Leitlinie.

Auch kleine Geschenke beeinflussen

Hauptautor der Leitlinie ist ein Schweizer, Francois Mach. Er hat freiwillig offen gelegt, 2018 finanzielle Leistungen von Amgen und Sanofi erhalten zu haben. Laut Pharmagelder.ch, eine Internet-Plattform, welche ein Journalistenteam des Ringier Axel Springer-Verlags aufgebaut hat, waren das über 60'000 Franken – für Beratungen, Honorare, Reisekosten und andere Spesen.

Francois Mach bestreitet, dadurch beeinflusst worden zu sein: «Ich habe Geld von Firmen bekommen. Aber alles, was ich seit ungefähr sieben Jahren bekommen habe, ist in eine Stiftung geflossen, die Forschung für Patienten finanziert. Weder ich – noch übrigens meine Familie – hat also Geld bekommen, das die Leitlinien hätte beeinflussen können.»

Allerdings: Forschungsgelder, Honorare, und selbst kleine Zuwendungen der Industrie haben einen enormen Einfluss auf die Begünstigten, betont die Medizinethikerin Nikola Biller-Andorno: «Wir haben in Studien gesehen, dass Ärzte die von der Industrie gesponsert worden sind, positiver über die Produkte berichten, als Ärzte die kein Sponsoring haben.»

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Medizinethikerin Nikola Biller-Andorno: «Ein Phänomen, das in der Medizin ganz weit verbreitet ist.»
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Was die Studien auch belegen:

  • Interessenskonflikte sind häufig, ihre Deklaration hingegen nicht.
  • Bei 90 Prozent dieser finanziellen Verbindungen besteht auch ein Interessenskonflikt.
  • Die Beeinflussung passiert meist unbewusst.
  • Und: Es bestehen weniger Konflikte, wenn die Gelder von der öffentlichen Hand kommen.

Auch Leitlinien in der Schweiz betroffen

Auch viele Schweizer Leitlinien haben ein Problem mit Interessenkonflikten. Das ergab eine Studie von Holger Dressel, Gesundheitswissenschaftler an der Universität Zürich.

«Wir haben geschaut, ob die Interessenskonflikte überhaupt angegeben werden und in 44 Prozent der Fälle war das so», sagt Holger Dressel. «In über der Hälfte konnten wir das nicht sehen. Vielleicht gab es keine Interessenskonflikte, aber es wurde nicht aufgeschrieben.»

Deklarieren alleine reicht nicht zur Unabhängigkeit. Thomas Lempert von Leitlinienwatch: «Das wäre so als würde ein Richter sagen: Mit dem Kläger bin ich verwandt mit dem Angeklagten verschwägert. Jetzt habe ich das erklärt, jetzt kann man mit dem Prozess beginnen. Aber so funktioniert das nicht. Dieser Richter wird aus dem Verfahren herausgenommen, er ist einfach nicht der Geeignete.»

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Thomas Lempert, Gründer von Leitlinienwatch: «Da steht ja nur, wir haben sie erklärt.»
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Zwecksheirat mit der Pharmaindustrie

Die Medizin von der Industrie trennen? Francois Mach betont, ohne seine Verbindungen zur Pharmaindustrie würde der Forschung Schaden entstehen: «Es ist nicht der Staat, nicht der Bundesrat, nicht die kantonalen Behörden, nicht die defizitären Spitäler, die in Forschung investieren, sondern wer? Im Moment die Pharmaindustrie, das ist wahr. Aber zum Glück! Es ist eine Zwecksheirat! Aber sonst würde ein Grossteil dieser Forschung nicht gemacht.»

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Francois Mach, Hauptautor der ESC-Leitlinie: «Aber zum Glück! Es ist eine Zwecksheirat!»
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Trotzdem wird weltweit von Medizinern mehr Unabhängigkeit von der Industrie gefordert. Auch von Thomas Lempert von Leitlinienwatch. Leitlinienautoren sollen von vornherein keine Firmenkontakte haben und wenn im Einzelfall doch so jemand dabei sei, dann sei er aus der Abstimmung die seinen Interessenkonflikt betrifft auszuschliessen.

Schweiz übernimmt modifizierte umstrittene Leitlinie

Zurzeit liegt die Europäische Leitlinie bei der Schweizer Arbeitsgemeinschaft Lipidstoffwechsel und Arteriosklerose AGLA auf dem Tisch. Arnold von Eckardstein, Stoffwechselexperte und Präsident der Arbeitsgemeinschaft entscheidet mit, was von der europäischen Leitlinie in die schweizerische fliesst.

«Generell gilt die Politik, dass europäische Leitlinien nicht neu entwickelt werden. Wir werden sie übernehmen, aber modifizieren», sagt Arnold von Eckardstein.

Auswege aus der Befangenheit

Vorschläge, Interessenkonflikte bei der Erstellung der Leitlinien zu umgehen, gäbe es. Gemäss Daniel Tapernoux, Geschäftsführer der Patientenorganisation SPO, könnten Pharmafirmen die Forschungsgelder in einen Topf einzahlen, woraus verschiedene Firmen zusammen Forschung sponsoren. «So hätten sie weniger Einfluss und man könnte unabhängiger forschen», sagt Daniel Tapernoux. Und fügt hinzu: «Oder dass halt mehr staatliche Gelder dafür eingesetzt würden.»

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