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Umstrittener Zielwert Neue Cholesterin-Leitlinie sehr umstritten

Eine neue Leitlinie gibt vor, die Cholesterinwerte weiter zu senken. Nicht alle Hausärzte sind damit glücklich.

Seit Anfang Jahr gilt die neue Leitlinie der Europäischen Fachgesellschaft für Kardiologie, die einen tieferen Grenzwert für Cholesterin definiert.

Davon betroffen sind Menschen wie Eric Stitzel. Er ist eigentlich gesund, sportlich, schlank, hat keinen Diabetes und weder er noch ein Familienmitglied hatte je einen Infarkt oder Schlaganfall. Nur sein Cholesterinwert ist zu hoch.

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«Auf Geheiss meines Hausarztes habe ich ein Medikament genommen», sagt Eric Stitzel. Drei Wochen später musste er zur Blutentnahme. «Da sagte er, dass er eine gute und eine schlechte Neuigkeit hat: Die gute Neuigkeit ist, dass mein Wert tatsächlich deutlich unter den Grenzwert gesunken ist. Und die schlechte Nachricht ist, dass es jetzt einen neuen Grenzwert gibt, und dort bin ich immer noch deutlich über dem Grenzwert. Das heisst, ich muss ein stärkeres Medikament nehmen.»

Tabletten? Nein Danke.

Rita Kost hat ähnliches erlebt. Obwohl sie, abgesehen von einer momentanen Erkältung, völlig gesund ist, hat die Hausärztin beim letzten Besuch plötzlich ihre Cholesterinwerte angesprochen. Mit den tieferen Zielwerten ist sie in die Kategorie «Leichtes Risiko» gerutscht.

Medikamente nehmen will Rita Kost nicht: «Ich bin kein Tablettenesser. Ich versuche das mit der Ernährung hinzubekommen.» Der gemeinsame Entscheid von Patientin und Hausärztin war rasch gefällt – entgegen der neuen Leitlinie. «Sie hat mich nicht gedrängt. Sie hat mich zweimal gefragt und dann sagte sie: Gut Frau Kost, wenn sie das nicht wollen, dann lassen wir das sein.»

Unzählig viele neue Patienten

Rita Kost und Eric Stitzel sind keine Einzelfälle: Das Institut für Hausarztmedizin hat die Auswirkung der neuen Leitlinie analysiert – mittels 100'000 elektronischen Krankenakten von Patienten mit bekannten erhöhten Cholesterinwerten.

Gerade mal 17 Prozent von ihnen erreichen im Moment den Zielwert gemäss neuer Leitlinie. 83 Prozent der Patienten müssen den tieferen Wert noch erzielen. Fast die Hälfte dieser Patienten nimmt bereits – wie Eric Stitzel – ein Statin und muss jetzt vielleicht mehr Medikamente nehmen. Die Restgruppe muss sich mit der Frage befassen, ob sie neu Medikamente nehmen soll, so wie Rita Kost.

Um diese Medikamente geht es

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Als erste Option werden in der Regel Statine abgegeben. Wenn diese allein nicht ausreichen, kann zusätzlich Ezetimib verabreicht werden. Die beiden sind auch als Kombipräparat erhältlich.

Und dann gibt es noch die PCSK9-Hemmer. Diese Medikamente werden an Hochrisikopatienten abgegeben. Sie sind sehr teuer. Alle Medikamente sollen den sogenannten LDL-C-Wert senken.

Ein grosses Geschäft: Der Umsatz in der Schweiz betrug letztes Jahr 216 Millionen Franken. Diese Zahl dürfte mit den neuen Zielwerten steigen.

«Die umstrittenste Leitlinie, die ich je erlebt habe»

Ob Patienten wie Eric Stitzel oder Rita Kost von den tieferen Zielwerten profitieren, ist für Thomas Rosemann, Direktor des Instituts für Hausarztmedizin Zürich, fraglich. Dies sei kritisch zu betrachten. «Wenn sie überhaupt davon profitieren, dann nur ein kleiner Prozentsatz. Das heisst, man muss sehr, sehr viele Patienten behandeln, um wirklich einen Effekt zu sehen.»

Thomas Rosemann kritisiert vor allem die Datengrundlage, auf die sich die neue Leitlinie bezieht: «Einer der Hauptkritikpunkte ist, dass man die Daten aus Studien ableitet, die man zu neuen Medikamenten gemacht hat, wo man gesehen hat, dass Hochrisikopatienten von der Cholesterinsenkung mit diesen neuen Substanzen profitieren. Und daraus leitet man für fast alle Patienten ab, dass es besser ist, wenn man das Cholesterin stark senkt.»

Ausserdem stehen viele der Leitlinien-Autoren auch wegen Interessenkonflikten mit Pharmafirmen in der Kritik. «Wir haben ein grosses Problem mit Interessenkonflikten entdeckt», sagt Thomas Lempert von leitlinienwatch.de in Berlin. «Über 100 Experten haben daran mitgearbeitet. Die Mehrzahl hatte finanzielle Verbindungen zu den Herstellern der teuersten Cholesterinsenker der neuen Generation.»

Für Thomas Rosemann steht fest: «Es ist mit Sicherheit die umstrittenste Leitlinie, die ich je erlebt habe.» Zum einen werde ein Grossteil der Bevölkerung über 40 plötzlich zu Patienten, dann werde die Datengrundlage kritisch diskutiert und zusätzlich gebe es noch die Hinweise auf Einflüsse der Pharmaindustrie auf die Leitlinien-Kommission. «Das als Gesamtbild macht halt vielen ein bisschen Bauchweh, gerade den Hausärzten.»

Zurückhaltung in der Arztpraxis

Eine kritische Haltung ist Eric Stitzel auch bei seinem Hausarzt aufgefallen. «Ich habe gespürt, dass er auch nicht 100-prozentig hinter diesem neuen Zielwert stand», sagt Eric Stitzel. «Da frage ich mich natürlich, ob ich dieses Medikament wirklich nehmen will oder so stark dosiert nehmen soll.»

Deshalb hat er sich eine Zweitmeinung eingeholt. Verständlich für Leander Muheim, Hausarzt bei Medix in Zürich. «Jetzt muss er als gesunder Mensch plötzlich ein Medikament nehmen. Jeden Tag.», sagt der Hausarzt. «Dann kommen vielleicht Nebenwirkungen dazu, wenn er eine höhere Dosis anstrebt.» Er spricht von Muskelbeschwerden und starken Krämpfen in den Beinen. Darüber klagen viele Patienten, die Statine einnehmen.

Für Leander Muheim ist der Fall für den ansonsten gesunden Eric Stitzel klar: «Nehmen Sie ein Medikament, das würde ich wirklich empfehlen. Indem sie diesen wirklich hohen Wert ein Stück weit herunterholen, ist schon viel erreicht.» Die tieferen Werte, welche die neue Leitlinie empfiehlt, strebt er nicht an.

Puls, 12.10.2020, 21:05 Uhr

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