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Welt des Unterbewusstseins Hypnose statt Narkose

Das Genfer Universitätsspital HUG meint es ernst. Es setzt seit einem Jahr im grossen Stil auf Hypnose. Das Ziel des schweizweit einzigartigen Programms: Bis in vier Jahren sollen rund 4000 Mitarbeitende die Grundtechniken der Hypnose kennenlernen.

Das vermittelte Hypnose-Wissen soll dem Personal bei Alltagsproblemen helfen – etwa beim Spritzen geben, beim Wunden nähen oder bei schmerzhaften Untersuchungen. Hypnose soll bei den Patienten Stress und Angst reduzieren und für Entspannung und Wohlbefinden sorgen.

Sich geistig lösen – die Schmerzen verschwinden

Die beiden leitenden Ärztinnen des Programms sind die Anästhesistin Adriana Wolff und die Immunologin Claire-Anne Siegrist. Letztere sitzt im Rollstuhl. Sie leidet seit zwei Jahren an einer schmerzhaften Nervenkrankheit in den Beinen. Durch ihr Leiden hat sie die Hypnose für sich entdeckt: «Ich löse mich geistig und halte meine Füsse in einen Bergsee, den ich gut kenne. Sie kühlen sich ab und tun nicht mehr weh. Es stoppt die Schmerzen», beschreibt Claire-Anne Siegrist ihre Selbsthypnose.

Aus dem Alltag wegtauchen, sich wegtragen lassen, an einen Ort, an dem man sich aufgehoben fühlt, sich wohlfühlen, Schmerzen, Ängste und Sorgen hinter sich lassen – das bringt Hypnose.

Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Hypnose Menschen in einen anderen Bewusstseinszustand versetzt: Patienten können Abstand nehmen, von dem, was aktuell rundherum passiert und sich stattdessen auf das Innere fokussieren.

So funktioniert die Hypnose

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Bei der Hypnose gibt es vier Phasen, die sich Induktion, Vertiefung, Hauptteil und Rücknahme nennen. Eine wichtige Grundregel ist, dass der Hypnotiseur Worte und Sätze stets positiv formuliert. Daher kommen Wörter wie «Geborgenheit» oder «Sicherheit» in der Hypnose sehr häufig vor.

  • Induktion: Als erstes lässt man den Alltag hinter sich. Der Hypnotiseur leitet den Zustand einer Trance ein, indem er den Patienten sich etwas vorstellen lässt. Er achtet dabei auf die richtige Stimmführung. Was er in dieser Phase sagt, klingt ähnlich wie Meditation: «Sie sind ruhig und entspannt», oder «Sie spüren den Kontakt zur Unterlage, auf der Sie liegen.»
  • Vertiefung: Ist der Patient in Trance, wird er noch tiefer und intensiver hineingeleitet. Inhaltlich geht der Hypnotiseur individuell auf Erinnerungen des Patienten ein. Er beobachtet in diesem Zustand den Patienten genau. Muskelspannung, Atemfrequenz und Puls zeigen, wie tief der Trancezustand ist. Ist er zu wenig tief, kann noch nicht therapeutisch gearbeitet werden. Ist er hingegen zu tief, schläft er ein. Die Hypnose fühlt sich an wie ein Traum, den man für real hält. Befindet der Patient sich in Gedanken etwa auf einem Schiff, kann er die Wellenbewegungen wirklich spüren. Dies deckt sich mit funktionellen Hirnbildern: In diesem Zustand ist die Hirnregion für die Raumwahrnehmung sehr aktiv. Das suggeriert, das Gedachte sei real.
  • Hauptteil: Jetzt kann der Hypnotiseur zum Beispiel das Schmerzempfinden des Patienten therapeutisch beeinflussen. Unter Hypnose gibt es Regeln, die mit der äusseren Logik nicht kompatibel sind und völlig unlogisch erschienen. Der Patient beschreibt seinen Schmerz etwa mit einer Farbe, nicht nur ungefähr, sondern haargenau: beispielsweise ultramarinblau. Der Hypnotiseur versucht dann die Regeln und die Logik des Schmerzes zu erkennen und sie zu verändern. Patienten solle die Farbe wechseln und darauf achten, ob sich etwas am Schmerz ändert. Auf diese Weise kann er mit dem Schmerz des Patienten arbeiten und ihn unter Umständen eliminieren.
  • Rücknahme: In diesem Teil nähert sich das Bewusstsein wieder dem Wachzustand an – ein besonders wichtiger Teil. Denn der Hypnotiseur muss erkennen, ob der Patient sich wieder im normalen Wachzustand befindet. Unter Trance dauert beispielsweise die Reaktionszeit länger. Sitzt der Patient nach einer solchen Sitzung ins Auto, kann es zu gefährlichen Situationen kommen.

Nicht dasselbe wie Show-Hypnose

«Viele kennen die Hypnose nur vom Fernsehen, als Spektakel. Das hat aber nichts mit unserem Programm der medizinischen Hypnose zu tun», sagt Claire-Anne Siegrist.

So mancher denkt sich gar, es handle sich um Scharlatanerie. Doch: Sowohl neurowissenschaftliche Untersuchungen als auch Wirksamkeitsstudien belegen den hypnotischen Zustand.

Demnach sind während einer Hypnose die Gehirnströme verändert. In der sogenannten Trance unterscheidet das Gehirn nicht zwischen Vorstellung und Realität. Genau das nutzt die Medizin.

Schmerzen im Gehirn ausschalten

Was sich im Gehirn verändert, hat die Narkoseärztin Marie-Elisabeth Faymonville am Universitätsspital von Lüttich untersucht. Sie gilt als Pionierin der modernen medizinischen Hypnose und ist bereits seit über 30 Jahren in diesem Feld tätig.

Sie konnte zeigen, dass Schmerzen im Wachzustand und unter Hypnose im Gehirn völlig anders verarbeitet werden: Unter Hypnose sind die Regionen, die im Wachzustand reagieren, nicht mehr aktiv. «Unser Gehirn hat die Möglichkeit, die Informationen, die im Gehirn ankommen, komplett zu verändern», sagt Marie-Elisabeth Faymonville. Schmerzen lassen sich also durch Hypnose aus der Wahrnehmung verdrängen.

Das haben auch Faymonvilles Patienten mit chronischen Schmerzen festgestellt. «Dank den Hypnosesitzungen kann ich meine Migräneattacken besser voraussehen», sagt Sibille Oger. «Ich brauche keine Schlafmittel mehr.»

Endlich etwas in der Hand

Ähnlich positiv klingen die Mitarbeitenden am Unispital in Genf, die bereits an einer Schulung teilnehmen durften: «Ich war früher oft hilflos gegenüber Patienten, die moralisch und körperlich leiden», sagt Violette Borel, Pflegefachfrau in der Onkologie. «Da ist die Hypnose ein wunderbares Mittel.»

Besonders gut scheint die Hypnose in der Arbeit mit Kindern anzukommen: «Interessant ist, wie schnell das Kind in seiner Welt ist», sagt die Kinder-Physiotherapeutin Prisca Wasem. «Es vergisst dabei völlig, dass es gerade eine Physiotherapie macht. Und es bewegt sich ganz natürlich.»

Peter Sandor, Neurologe und Präsident der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Hypnose, weiss: «Kinder sind einfacher zu hypnotisieren, da sie eine lebendigere Fantasie und ein lebhafteres Vorstellungsvermögen haben.»

Gegen Schmerzen, Angst und Depressionen

Nicht nur gegen Schmerzen, auch gegen Angst, Depressionen und andere psychiatrische Erkrankungen kann Hypnose ein wirksames Mittel sein. Oder auch um das Verhalten zu ändern: Wenn jemand etwa weniger Schokolade essen möchte oder plant, das Rauchen aufzugeben.

Doch Peter Sandor warnt: «Wenn es um medizinische Probleme geht, sollte man sich bei einem Arzt oder bei einer Person mit einem eidgenössisch anerkannten Gesundheitsberuf hypnotisieren lassen, die eine zusätzliche Hypnose-Ausbildung haben.» Er empfiehlt die zertifizierten Hypnosetherapeuten, die auf der Website der Fachgesellschaften zu finden sind.

«Diese Personen haben einen medizinischen Hintergrund und würden auch eine gefährliche Erkrankung erkennen, die sich nicht einfach weghypnotisieren lässt, und die Patienten dann an einen Spezialisten weiterleiten», sagt Peter Sandor. Denn Hypnotiseure ohne den nötigen gesundheitlichen Hintergrund gebe es zuhauf.

«Warum dieses Auseinanderdividieren?», fragt sich Roland Wiederkehr, alt Nationalrat und im Vorstand des Berufsverbands für Hypnosetherapie, wo viele nichtärztliche Hypnosetherapeuten organisiert sind. Ein Arzt sei zuallererst Arzt und wende Hypnose im Gegensatz zu vielen Hypnosetherapeuten relativ selten an. Man behandle viele Klienten, die bei Ärzten keine Hilfe fanden.

«Wir Therapeuten sind für ein Miteinander mit den Ärztinnen und Ärzten», sagt Wiederkehr. Am besten sei eine ärztliche Behandlung kombiniert mit Hypnosetherapie.

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