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X-Beine von hinten gesehen
Legende: Achsenfehlstellungen wie X- oder O-Beine erhöhen das Arthrose-Risiko deutlich. Imago

«X-Beine kann man nicht mit einer Pille korrigieren»

Arthrose lässt sich medikamentös immer besser behandeln. Das hat aber Grenzen, weiss Schmerzspezialist Thomas Hügle.

SRF: Früher wurde Arthrose als unabänderliches Schicksal hingenommen. Heute wird die Früherkennung propagiert, weil sich eben doch etwas machen lässt. Wann ist der Moment für eine Abklärung gekommen?

Thomas Hügle: Schmerzen sind definitiv ein Alarmsignal. Schmerzen zwischen oder nach einer Belastung oder beim Treppensteigen. Dauerschmerz ist schon ein sehr starkes Symptom.

Ist es dann nicht schon zu spät?

Nicht unbedingt. Das Abklären lohnt sich auf jeden Fall. Je früher das Problem erkannt wird, desto mehr Knorpelmaterial ist noch vorhanden und kann potenziell gerettet werden. Was verloren ist, kommt nicht mehr zurück.

Wenn mich noch keine Schmerzen plagen: Wann sollte ich mir grundsätzlich Gedanken machen?

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Ein geschwollenes Gelenk ist immer ein ernst zu nehmendes Symptom. Das wird gerne unterschätzt.

Übergewicht ist sicher auch nicht förderlich.

Allerdings. Es belastet die Knie besonders stark. Und wenn das Übergewicht mit Bluthochdruck, hohem Cholesterin und Diabetes einhergeht – dem metabolischen Syndrom –, kommen hormonelle Einflüsse hinzu. Die sorgen für Entzündungen im ganzen Körper, was den Gelenksknorpel zusätzlich angreift.

Je früher das Problem erkannt wird, desto mehr Knorpelmaterial ist noch vorhanden und kann potenziell gerettet werden. Was verloren ist, kommt nicht mehr zurück.

Sportverletzungen und instabile Gelenke sind weitere klassische Risikofaktoren. Mit die häufigste Ursache für Kniearthrose sind aber Achsenfehlstellungen – also X- oder O-Beine.

Wo soll man sich abklären lassen: Beim Hausarzt oder gleich beim Spezialisten?

Thomas Hügle

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Thomas Hügle ist Professor für Rheumatologie an der Schmerzklinik Basel, wo er eine der weltweit ersten interdisziplinären Sprechstunden für Früharthrose eingerichtet hat. Zuvor war er Forschungsleiter Orthopädie am Unispital Basel. Wissenschaftlich arbeitet er unter anderem an entzündlichen Vorgängen im Knochen und der Gelenkshaut bei Arthrose.

Der Hausarzt kann ein Röntgenbild veranlassen oder Physiotherapie verschreiben. Für spezifische Untersuchungen ist der Rheumatologe oder Orthopäde aber besser gerüstet.

Also nicht erst zum Hausarzt gehen und dann weiterschauen?

Da versuchen wir in der Tat, ein Umdenken herbeizuführen: Nicht erst salben und warten, sondern die Symptome gleich ernst nehmen und sie gründlich abklären

Zu langes Warten kostet Zeit und Knorpel. Deshalb haben wir in Basel auch eine Früharthrose-Sprechstunde eingeführt, wie es das für rheumatische Beschwerden schon länger gibt.

Apropos Rheuma: Früher wurde Arthrose klar von der Arthritis abgegrenzt. Hier die Knorpelabnutzung, da die Gelenksentzündung. Heute ist die Grenze fliessend. Was hat zum Umdenken geführt?

Zum einen das jahrzehntelange fruchtlose Bemühen, den Knorpel isoliert zu behandeln. Das war enorm frustrierend.

Zum anderen wurde die Arthrose als Erkrankung des ganzen Gelenks erkannt. Da kam ein Puzzlestein zum anderen. Kalziumkristalle beispielsweise wurden früher als Nebenprodukt verstanden. Heute wissen wir, dass sie aktiv am Knorpelabbau beteiligt sind: Kristallablagerungen im Knorpel lassen sich im Verlauf der Arthrose bei über 90 Prozent der Betroffenen nachweisen!

Gibt es weitere Erkenntnisse, an denen aktuell geforscht wird?

Am meisten interessiert man sich derzeit für den Knochen unter dem Knorpel. Dort können schon vor dem Auftreten von Knorpelschäden Umbildungen beobachtet werden. Und da sich Knochen besser behandelt lässt als Knorpel, eröffnet das spannende neue Möglichkeiten.

Knochen lässt sich besser behandeln als Knorpel. Das eröffnet spannende neue Möglichkeiten.

Der Gedanke an eine Operation oder gar ein künstliches Gelenk erschreckt viele Betroffene und lässt sie möglichst lange alles Mögliche ausprobieren. Derzeit ist das Spritzen von PRP – Platelet Rich Plasma – hoch im Kurs. Was halten Sie davon?

Die Methode kommt aus der Sportmedizin und hat besonders in den USA einen sehr guten Ruf. Das Blut enthält verschiedene Wachstumsfaktoren und Entzündungshemmer, die man gezielt zur «Wundheilung» im betroffenen Gelenk zu nutzen versucht. Die entsprechenden Plättchen werden durch einfaches Zentrifugieren aus Eigenblut gewonnen und dann ins betreffende Gelenk gespritzt.

Studien belegen einen gewissen Nutzen. Die Symptome werden gelindert, aber ein Knorpelaufbau wird nicht erreicht.

Welche Alternativen gibt es?

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Kortison wirkt schnell und gut gegen Entzündung und Schwellung. Zu oft und in zu hohen Dosen sollte es aber nicht gespritzt werden, und es ist auch nicht für jedermann geeignet.

Hyaluronsäure hemmt die Entzündung. Was den gerne versprochenen Knorpelaufbau betrifft, ist die Studienlage aber sehr kontrovers. Ebenso fehlen Studien, die den Stopp des Knorpelabbaus belegen würden.

Chondroitinsulfat ist sehr beliebt, da es günstig ist und einfach einzunehmen. Zur Wirksamkeit gibt es extrem viele Studien – sehr viele negative, einige positive. Es wirkt aus meiner Sicht wohl schmerzlindernd, hat aber keine signifikante Wirkung auf den Knorpelauf- oder -abbau.

Zu viel sollte man sich von den Medikamenten nicht versprechen, denn auf die wichtigen biomechanischen Problemzonen einer Arthrose haben sie keinen Einfluss. X-Beine lassen sich nicht mit einer Pille korrigieren.

Wovon raten Sie klar ab?

Da gibt es so vieles… Wenn von Knorpelaufbau die Rede ist, sollte man auf jeden Fall skeptisch sein. Und die Arthroskopie kann man sich auch sparen: Eine «Gelenktoilette» hat keinen Einfluss auf die Arthrose.

Wenn von Knorpelaufbau die Rede ist, sollte man auf jeden Fall skeptisch sein.

Wann führt kein Weg mehr an einer Operation vorbei?

Aus medizinischer Sicht, wenn im Röntgenbild gar kein Gelenkspalt mehr sichtbar ist. Meist warten die Betroffenen aber viel länger, bis ihre Lebensqualität in unerträglicher Weise eingeschränkt ist. Dabei gäbe es in einem früheren Stadium diverse Alternativen zu einer Vollprothese.

Das Gespräch führte Franco Bassani

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