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Zur Diagnose in die Apotheke statt zum Hausarzt?
Aus Puls vom 26.03.2012.
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Zur Diagnose in die Apotheke statt zum Hausarzt?

Ab Anfang April kann man schweizweit in 200 Apotheken den Videodoktor besuchen statt zum Hausarzt zu gehen. «Puls» war im Vorfeld mit einer Modellpatientin beim Videoarzt und wollte wissen, was die Ferndiagnose kann - und wo ihre Grenzen sind.

Befürworter des von Pharmasuisse, Medgate und Helsana lancierten Projekts betonen, dass es Hausärzte und überfüllte Notfallstationen entlaste und zur Senkung der Gesundheitskosten beigetragen werde. Die Kritiker warnen hingegen vor unpräzisen Diagnosen, Doppelbehandlungen und Mehrkosten - eine Diskussion, die die Telemedizin seit ihren Anfängen in den 1980er-Jahren begleitet.

Ist die Telemedizin wirklich der Tod der Hausarztpraxis? Was wurde bisher erreicht und wo sind die grossen Herausforderungen? «Puls» hat sich mit Dr. Martin D. Denz unterhalten, dem Präsidenten der Schweizerischen Gesellschaft für Telemedizin und eHealth SGTMeH.

«Puls»: Anfang April startet das Projekt «netCare», das medizinische Konsultationen in der Apotheke ermöglicht. Videodoktor und Arzneiausgabe am selben Ort vereint - ist das der Anfang vom Ende des Hausarztes?

Dr. Martin D. Denz, Präsident Schweizerische Gesellschaft für Telemedizin: Ganz klar nein - zumal es der Ärzteseite frei steht, etwas Ähnliches auf die Beine zu stellen. Das Projekt sehe ich vielmehr als Ausdruck der geänderten Bedürfnisse auf Patientenseite. Die haben sich weiterentwickelt, was das Gesundheitswesen mit drei grossen Fragen konfrontiert: Wie können wir dem Patienten die besten Dienstleistungen anbieten? Wie gehen wir mit den realen Bedürfnissen der Patienten um? Und wie schaffen wir es, offen für Veränderungen zu sein, statt in alten Gewohnheiten zu verharren?

Neue Modelle sind gefragt - da muss man auch mal etwas ausprobieren und Erfahrungen sammeln.

Beim Stichwort «Telemedizin» hat man gemeinhin neue Arten der Arzt-Patienten-Beziehung vor Augen. Dabei spielt sie auch unter Ärzten eine wichtige Rolle. Wie schätzen Sie die Bedeutung im Vergleich ein und wo findet die rasantere Entwicklung statt?

Im Zentrum steht immer die Beziehung zwischen Arzt und Patient. Entscheidend ist dabei die fachkompetente Nutzung des richtigen Medienkanals. Hier sehen wir auch die Aufgabe der SGTMeH.

Traditionell wird Telemedizin als Austausch von Informationen zwischen Ärzten an verschiedenen Orten verstanden. «Tele» heisst ja «fern». Hier sind eine Öffnung und ein neues Verständnis erforderlich, denn die rasanteste Entwicklung findet beim Patienten statt, der ganz selbstverständlich neueste Kommunikationsmittel im Alltag nutzt. Da hinken wir grösstenteils der Entwicklung hinterher und müssen verkrustete Strukturen aufbrechen, um mit der Gesellschaft Schritt zu halten. Oder können Sie z.B. den Termin für die Routinekontrolle bei Ihrem Hausarzt einfach auf dessen Website buchen? Technisch ist dies längst machbar, aber die althergebrachten Praxisabläufe verhindern es.

Welchen Einfluss haben jüngere technische Innovationen wie ein flächendeckend verfügbares Breitband-Internet, Smartphones, Tabletcomputer etc. auf die Telemedizin?

Da eröffnen sich natürlich ganz neue Möglichkeiten zur Zusammenarbeit. Der technische Fortschritt und die gesteigerte Mobilität wirken sich aber auch auf das Verhalten der Patienten aus. Und die sind ja nicht nur Patienten - also Abhängige -, sondern auch mündige Bürger und Konsumenten. Wir Ärzte sollten uns öfter in diese Perspektive versetzen und Alltägliches mit gesundem Menschenverstand erkennen und berücksichtigen. Kurz: mit der Zeit gehen!

Wie wirkt sich die Entwicklung des «aufgeklärten Patienten» aus, der immer mehr medizinische Informationen im Internet sucht und findet?

Ich beurteile diese Entwicklung positiv und empfinde sie als Bereicherung - sogar ein Stück weit als Entlastung. Mit Patienten, die sich aktiv informieren und interessieren, ist eine ganz andere Zusammenarbeit möglich: Die Compliance («Anm.: d.h. Therapietreue») ist eine der grössten Herausforderungen, gerade bei den immer häufigeren chronischen Erkrankungen. Wer den Sinn eines komplexen Medikationsschemas nachvollziehen kann, befolgt dieses viel zuverlässiger als jemand, der sich als blosser Befehlsempfänger vorkommt.

Aufgeklärte Patienten können viel besser in die Behandlung einbezogen werden und in ganz anderem Mass Verantwortung für sich selber übernehmen.

Welche Hoffnungen in die Telemedizin haben sich (noch) nicht erfüllt?

Vieles ist im Alltag noch nicht wirklich integriert. So steht z.B. in beinahe jeder Hausarztpraxis ein Computer, aber bloss in 20 Prozent aller Fälle wird der für medizinisches Informationsmanagement genutzt. Stattdessen läuft darauf die Buchhaltung oder ein Office-Programm. Dabei wäre eine elektronische - auch für Patienten einsehbare - Patientengeschichte ein wertvolles Hilfsmittel, um eine Übersicht in der Art zu haben, wie es früher noch die Landärzte in kleinen Gemeinden hatten.

Manchmal verhindern aber auch amtliche Vorgaben, dass wir mit der Zeit gehen können. Patientendaten müssen deshalb noch per Fax übermittelt werden, obwohl das per E-Mail sehr viel sicherer möglich wäre.

Was ist die nächste grosse Herausforderung?

Ganz klar die Integration der neuen Mittel und Medienkanäle in die ärztliche Kultur. Dass dabei Widerstände zu überwinden sind, hat durchaus Geschichte. So stiessen auch das Stethoskop oder das Telefon anfänglich auf Skepsis und Unverständnis. Heute würde kein Arzt mehr auf ersteres verzichten, und die Befürchtung, dass das Telefon zu zwischenmenschlicher Entfremdung führen würde, hat sich auch nicht bewahrheitet – im Gegenteil.

Eigentlich geht es darum, den «Hausarzt 3.0» zu erfinden: eine ganzheitliche Betreuung, die Beziehungsqualität von früher mit den Mitteln von heute, um eine bessere Medizin zu betreiben. Dafür bedarf es seitens der Ärzte nicht nur einer technischen Kompetenz in der Bedienung neuer Geräte, sondern auch psychosoziale Kompetenz in der gezielten Anwendung der Medienkanäle. Da besteht noch enormer Ausbildungsbedarf.

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