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Rückgang der Gletscher «Mindestens 1100 Schweizer Gletscher werden bis 2100 schmelzen»

Die neuste Untersuchung der weltweiten Gletscherschmelze zeigt: Es geht noch schneller als bisher erwartet. Matthias Huss von der ETH Zürich war an der neuen «Science»-Studie beteiligt.

Matthias Huss

Glaziologe

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Seit vielen Jahren vermisst Matthias Huss den weltweiten Rückgang der Gletscher. Er leitet das Schweizer Gletschermesswerk an der ETH Zürich.

SRF Wissen: Herr Huss, wie haben Sie die Prognosen verbessert?

Matthias Huss: Mit dieser neuen Studie kamen komplett neue Methodiken zum Einsatz. Wir haben jetzt genauere Modelle, genauere Daten und können so bessere Aussagen zum Gletscherrückgang machen. Das Eis geht ein bisschen schneller zurück als bisher gedacht, aber grundsätzlich sind unsere früheren Prognosen recht robust.

Selbst mit dem besten Szenario werden 1100 bis 1200 der aktuell 1400 Gletscher der Schweiz bis im Jahr 2100 verschwinden.

Sie haben mit verschiedenen Szenarien gerechnet. Wenn sich die Welt nur um 1.5 Grad erwärmt, wie sehen die Schweizer Gletscher dann im Jahr 2100 aus?

Selbst mit diesem besten Szenario werden rund zwei Drittel des Eisvolumens der Gletscher verloren gehen. Damit werden 1100 bis 1200 der aktuell 1400 Gletscher der Schweiz bis im Jahr 2100 verschwinden. Aber wir könnten mit diesem Klimaschutzszenario einige grosse Gletscher retten, zumindest in kleinerer Form.

Die Karte entspricht einer Erwärmung von etwa 2.5 Grad in der Schweiz bis 2100, das ist der Pfad, auf dem wir derzeit unterwegs sind (mit den angekündigten Co2-Einsparungen, welche die Staaten weltweit gemacht haben). Die kleineren Gletscher (gelb und grün) werden bis dann alle verschwunden sein, die grossen Gletscher werden bis auf die rötlichen Restflächen zurückgeschmolzen sein und nach 2100 dann aber noch weiterschmelzen.

Wie sieht dieses beste Szenario weltweit aus?

Weil die meisten Gletscher weltweit in den polaren Regionen liegen, sieht es da ein wenig besser aus. Dort können mit einem sehr ambitionierten Klimaschutz drei Viertel der Gletschermasse gerettet werden.

Derzeit steuern wir allerdings auf eine Klimaerwärmung von plus drei Grad zu – wie sieht die Gletscherwelt 2100 in diesem Szenario aus?

In der Schweiz hätten wir dann nur noch in den höchsten Lagen rund 10 Prozent des Eises, sonst wäre alles weggeschmolzen. Auch weltweit gehen bei diesem Szenario deutlich mehr Gletscher verloren.

Viele Gletscher würden bei einer Klimaerwärmung um drei Grad auf längere Frist hinaus komplett verschwinden.

Wir hätten im Jahr 2100 zwar noch etwa zwei Drittel des Eisvolumens, aber das Abschmelzen ginge deutlich über 2100 hinaus. Das heisst, viele Gletscher würden bei einer Klimaerwärmung um drei Grad auf längere Frist hinaus dennoch komplett verschwinden.

Wie stark steigt denn der Meeresspiegel an – je nach Szenario?

Alleine aufgrund der Gletscherschmelze steigt er um rund 10 bis 15 Zentimeter bis 2100. Das tönt nicht nach viel, aber dazu kommt noch die Ausdehnung des Meerwassers aufgrund der Erwärmung und das langsame Abschmelzen der kilometerdicken polaren Eiskappen. Und vor allem, wenn das zusammen mit Sturmfluten kommt, dann ist es für Küstenregionen weltweit extrem problematisch.

Warum das Schmelzen der Polkappen entscheidend ist

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Langfristig ist das Schmelzen der dicken Eisschilde am Nord- und am Südpol entscheidender für den Anstieg des Meeresspiegels als das Schmelzen der Gletscher.

Derzeit trägt die Schmelze der vergleichsweise kleinen Gletscher noch stärker zum Meeresspiegelanstieg bei. Aber das Volumen der kilometerdicken Eiskappen an den Polen ist ungleich mächtiger, und so ist das Schadenspotential beim Abschmelzen der Eisschilde viel grösser.

Je nach Ausmass der Klimaerwärmung schmelzen die Polkappen schneller und stärker ab oder das Ausmass bleibt kleiner. Aber wenn alles Eis auf Grönland schmelzen würde, würde das Meer um sieben Meter ansteigen. Würde die gesamte Antarktis abtauen, wären es über 60 Meter.

Bis Ende dieses Jahrhunderts werden die Gletscher noch etwa gleich viel zum Meeresspiegelanstieg beitragen wie die polaren Eisschilde. Danach werden gemäss den Berechnungen der Glaziologen die Eiskappen zum Haupttreiber des steigenden Meeresspiegels.

Uns in der Schweiz trifft der Meeresspiegelanstieg nur indirekt. Das fehlende Schmelzwasser im Sommer dürfte für uns das grössere Problem sein?

Richtig, die Schweiz hängt sehr stark vom Schmelzwasser aus den Bergen ab. Dieses Wasser ist wichtig für die Stromproduktion, um die Stauseen zu füllen, aber auch, um Dürreperioden im Sommer zu überbrücken.

Im letzten Hitzesommer 2022 hatten wir so gesehen noch eine günstige Lage, da wir eben noch Gletscher hatten. Sie sind besonders stark geschmolzen und haben damit die Wasserknappheit gelindert. Wenn wir aber weiter in die Zukunft blicken und die Gletscher eben fast ganz verschwinden werden, dann wird die Wasserknappheit im Sommer deutlich zunehmen.

Das Gespräch führte Christian von Burg.

SRF 4 News, 05.01.2023, 22:00 Uhr ; 

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