Wer in diesem Sommer auf den Claridenfirn im Kanton Glarus (GL) blickte, sah eine karge Eisfläche ohne jede Schneedecke – ein Anblick, der früher undenkbar war. Am Vadret da Morteratsch (GR) setzte die Schmelze schon Ende Juni ein, so früh wie kaum je zuvor. Und am Rhonegletscher (VS) wuchs der türkisfarbene See vor der Zunge rasant, während die berühmte Eisgrotte endgültig aufgegeben werden musste.
Über 1000 Gletscher schon weg
Laut dem Schweizerischen Gletschermessnetz GLAMOS schrumpften die Gletscher in den letzten zwölf Monaten um rund drei Prozent – nur die Jahre 2022, 2023 und 2003 verzeichneten noch grössere Verluste. Damit reiht sich 2025 in ein Jahrzehnt mit dem deutlich schnellsten Eisverlust ein: Seit 2015 haben die Gletscher ein Viertel ihres Volumens eingebüsst. Seit 1970 sind bei uns über 1000 Gletscher verschwunden.
«Die stetig schwindenden Gletscher tragen dazu bei, dass sich das Gebirge destabilisiert», sagt der Glaziologe Matthias Huss, Leiter GLAMOS. Dies könne zu Ereignissen wie im Lötschental führen, wo im Mai eine Fels-Eis-Lawine das Dorf Blatten verschüttet habe. Man gehe davon aus, dass bis zum Ende dieses Jahrhunderts ein Grossteil unserer Gletscher verschwinden werde und anstatt der Eisriesen nur noch Geröllfelder zu sehen seien.
Toteis, Sterbebegleitung und Geröll
Wenn die Gletscher als natürliche Wasserressourcen fehlen, habe dies insbesondere während Hitzewellen und Dürreperioden Folgen für unsere Wasserversorgung und die Stromproduktion.
Gletscherjahr 2025: Wie die Eisriesen dahinschmelzen
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Bild 1 von 6. Am Glacier de la Plaine Morte (BE) hat der Effekt des Faverges-Gletschersees ein Amphitheater aus Eis geschaffen. Bildquelle: Matthias Huss.
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Bild 2 von 6. Die Gesteinswüste oberhalb Scuol (GR) im Unterengadin war vor 100 Jahren noch fast vollständig von Gletschern bedeckt. Der Vadret da Rims ist der grösste schon komplett verschwundene Gletscher der Schweiz. Bildquelle: Matthias Huss.
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Bild 3 von 6. Nachbohren eines Pegels zur Bestimmung der Massenbilanz auf dem Glatscher da Medel (GR). Bildquelle: L. Hösli.
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Bild 4 von 6. Eishöhlen bieten ein eindrückliches Farbenspiel, sind aber ein Ausdruck von Zerfallsprozessen im Innern der Gletscher und oft stark einsturzgefährdet. Bildquelle: Matthias Huss.
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Bild 5 von 6. Der Messpegel auf dem Claridenfirn (GL) wird seit mittlerweile 111 Jahren am selben Ort erhalten – die Messreihe ist so lang wie sonst nirgends weltweit. Bildquelle: Matthias Huss.
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Bild 6 von 6. Im südlichen Wallis, wie hier am Findelgletscher bei Zermatt, blieb der Winterschnee oberhalb rund 3300 m über Meer erhalten, wodurch die Gletscher in grossen Höhen doch noch etwas neues Eis bilden konnten. Bildquelle: Matthias Huss.
Seit fast 20 Jahren erforscht Huss den dramatischen Gletscherschwund in den Schweizer Alpen und macht eine Art Sterbebegleitung. Zum Beispiel sei es beim Pizolgletscher (SG) wie bei einem schwerkranken Patienten gewesen, sagt er. 2018 sei damals die klare Diagnose gewesen, dass er nicht mehr lange da sein würde. Im Extremjahr 2022 sei es dann fertig gewesen, alles weg, zerfallen. Doch versteckt finde er weiterhin etwas Toteis unter dem Geröll als Überbleibsel vergangener Zeiten.
Die Gletscherlandschaft verändert sich vielerorts rasant. So musste etwa der Betrieb der Eisgrotte am Rhonegletscher diesen Sommer eingestellt werden. Denn der Eisblock, der längst vom Gletscher getrennt war und nur noch künstlich mit Tüchern geschützt wurde, ist zu klein und zu dünn geworden.
2025: Folgen des schneearmen Winters und der Hitzewelle
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Bild 1 von 6. Matthias Huss installiert auf dem Vadre Pers unter dem Piz Palü (GR) eine mit einer Webcam ausgestattetete Messtange zur Bestimmung der Schneemenge und der Schmelze in Echtzeit. Bildquelle: A. Linsbauer.
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Bild 2 von 6. Eishöhlen bieten ein eindrückliches Farbenspiel, sind aber ein Ausdruck von Zerfallsprozessen im Innern der Gletscher und oft stark einsturzgefährdet. Bildquelle: Matthias Huss.
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Bild 3 von 6. Vor etwa 15 Jahren verschwand der ehemalige Gletscher bei der Diavolezza (GR) vollständig. Dank Snow-Farming und Abdeckung wird dort nun ein «Gletscher» in einer völlig unnatürlichen Form erhalten. Bildquelle: A. Linsbauer.
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Bild 4 von 6. Der Claridenfirn (GL) war im September 2025 komplett schneefrei. Bildquelle: Matthias Huss.
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Bild 5 von 6. An verschiedenen Stellen in den Alpen bildeten sich eindrückliche Eishöhlen unter dem Gletscher. Bildquelle: Matthias Huss.
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Bild 6 von 6. Der Betrieb der künstlichen Eisgrotte am Rhonegletscher (VS) musste diesen Sommer aufgegeben werden. Bildquelle: Matthias Huss.
Ungewöhnlich sieht auch das künstliche Konstrukt aus Schnee über dem ehemaligen Gletscher bei der Diavolezza (GR) aus, der vor rund 15 Jahren vollständig verschwand. Er ist der einzige Gletscher, der ausschliesslich dank Snowfarming und Abdeckung in einer unnatürlichen Form erhalten bleibt. «Das ist aber keine idealisierte Gletscherrettung, sondern dort geht es um den Wintersport», sagt Huss. Vor Ort würde der Schnee mit Pisten-Fahrzeugen zu einem Haufen zusammengetragen und mit weissen Tüchern durch den Sommer gebracht, um im Herbst zeitig eine gute Piste erstellen zu können.
«In rund zehn verschiedenen Schweizer Skigebieten wie beim Gurschengletscher auf dem Gemsstock (UR), auf dem Titlis (OW) oder in Zermatt (VS) managt man das Abschmelzen der Gletscher ebenfalls mit Vliesabdeckungen», sagt Huss. Allerdings würde man dort – anders als beim Diavolezza – nur die neuralgischen Punkte abdecken, um weiterhin Skifahren zu können. Dennoch könnten die Gletscher der Schweiz unmöglich mit technischen Massnahmen, sondern nur durch wirksamen, weltweiten Klimaschutz noch zum Teil gerettet werden.