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Mensch Albert Schweitzer – verehrt und verdammt

War der Friedensnobelpreisträger nur der aufopfernde «Urwalddoktor»? Wurde er zu Recht wegen kolonialistischem Gehabe kritisiert? Noch immer befassen sich Forscher mit seinem Werk – auch der Berner Medizinhistoriker Hubert Steinke.

Vor ziemlich genau 100 Jahren, Mitte April 1913, trafen Albert Schweitzer und seine Frau Helene in Lambaréné ein. Dort – im heutigen Gabun, in Westafrika – gründeten sie das Urwaldkrankenhaus, für das Albert Schweitzer so berühmt werden sollte. Doch was für ein Arzt war Albert Schweizer? War die Kritik an ihm berechtigt? Der Medizinhistoriker Hubert Steinke geht diesen Fragen in seinen Forschungen nach.

Erst mit knapp 30 Jahren begann Albert Schweitzer sein Medizinstudium in Strassburg. Seine Motivation zu diesem vierten Studium – nach Philosophie, Theologie und Orgel – sei rein praktischer Natur gewesen, sagt Steinke: «Der Entscheid, Medizin zu studieren, ist mit dem Entscheid verbunden, nach Afrika zu gehen.» Schweitzer wollte helfen – dort auf dem fernen Kontinent, und dazu brauchte er medizinisches Wissen.

«Urwalddoktor», Fundraiser, Spitalmanager

Bis heute gilt Albert Schweitzer vielen als aufopfernder Helfer, doch dieses Bild ist unvollständig. In den ersten Jahren, also von 1913 bis 1917, habe Albert Schweitzer tatsächlich unter grossen Entbehrungen vor Ort selbst medizinische Hilfe geleistet, sagt Historiker Steinke – der «Urwalddoktor», wie man ihn sich heute vorstellt.

Albert Schweizer bei der Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahr 1954.
Legende: Träger des Friedensnobelpreises: Die Auszeichnung wurde Schweitzer für das Jahr 1952 zuerkannt. Die Zeremonie fand erst im November 1954 statt. Keystone

Doch in den späteren Jahren habe er sich vor allem um den Aufbau des Spitals gekümmert, die Organisation und die Finanzierung. Er hatte Ärzte, die für die täglichen Arbeiten zuständig waren. In dieser Zeit war Schweitzer also vor allem Spitaldirektor und das Aushängeschild von Lambaréné.

Kolonialistisch? Kritik am Menschenfreund

Schon damals war er eine internationale Ikone; allerdings eine, die spätestens ab den 60er-Jahren auch Kritik auslöste – so, wie sie der US-amerikanische Journalist Gerald McKnight formulierte. Albert Schweitzer sei zwar ein grosser Mann gewesen, erklärte er 1965 im kanadischen Fernsehen, aber kein Heiliger. Er stehe für das, was die Leute in ihm sehen wollten.

Der amerikanische Journalist publizierte eine Art Enthüllungsbuch, in dem er Schweitzer vorwarf, sein Spital sei chaotisch und unhygienisch. Und mit den Menschen dort – Patienten wie auch einheimischen Arbeitskräften – werde ein paternalistischer und herablassender Umgang geführt.

Polarisierte Meinungen über Schweitzer

Gerald McKnights Kritik, so Historiker Steinke, sei als Teil der generellen Kolonialismus-Kritik zu sehen, die ab den Sechzigerjahren aufkam: «Da ist natürlich auch Schweitzer in die Kritik gekommen, weil er Elemente der Kolonialmedizin an sich trägt: seinen weissen Tropenhut, eine gewisse Abgrenzung zwischen den Weissen und den Schwarzen vor Ort.»

Die Sicht auf Albert Schweitzer und seine damalige Klinik in Lambaréné ist geprägt von Extremen: Auf der einen Seite die grosse Bewunderung für den Menschenfreund, auf der anderen die Verdammung des Kolonialherrn. Wie der Friedensnobelpreisträger wirklich einzuordnen ist, möchte Steinke nun genauer untersuchen, indem er seine Briefe, Notizhefte und andere Schriften analysiert. Dabei geht es auch um die Frage, ob Albert Schweitzer den Menschen in Lambarene eine gute, moderne Medizin anbot.

Auch das wurde in Zweifel gezogen. Unverständnis löste etwa sein Entscheid aus, auf moderne Geräte wie Röntgenapparte lange zu verzichten. Lambaréné sei keine Klinik, hielt Schweitzer damals seinen Kritikern entgegen; es sei ein Dorf, wo geheilt werde. Nicht Hightech, sondern Menschlichkeit stand für ihn im Zentrum.

Ein anderer Ansatz von Entwicklungshilfe

Klar ist: Die Klinik in Lambaréné war geprägt von der Persönlichkeit Schweitzers. Und nicht all seine Entscheide von damals sind aus heutiger Perspektive leicht nachzuvollziehen; etwa seine Weigerung, Einheimische zu Arzthelfern auszubilden. Aus heutiger Sicht, so Steinke, würde man sagen: Das ist nicht Hilfe zur Selbsthilfe, sondern einfach eine lokale Hilfe, die vielleicht im frühen 20. Jahrhundert sehr gut nachvollziehbar ist. «Aber ab den 50er-Jahren gab es dann andere Ansätze der Hilfe, die Schweizer eben nicht übernommen hat», sagt der Historiker.

Die Klinik in Lambaréné, so wie sie damals funktionierte, taugt heute also nur beschränkt als Vorbild für die Entwicklungszusammenarbeit.

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