Die Warnung ist deutlich: Die Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten und an natürlichen Lebensräumen nimmt gefährlich ab. Das schreibt der Weltrat für Biodiversität IPBES in seinem neuen Bericht.
Neu ist das nicht. Was hingegen neu ist am Rapport: Erstmals haben nicht nur Wissenschaftler dazu beigetragen, sondern auch Mitglieder indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften.
Ein Novum, das man als Zeichen der Demut deuten kann: Der Natur geht es schlechter, ohne dass die Wissenschaft dies mit ihren Rezepten verhindern könnte.
Indigene verfügen über anderes Wissen
Unter solchen Umständen ist es klug, offen für Neues zu sein, sagt Zsolt Molnár. Der ungarische Botaniker hat am IPBES-Bericht mitgearbeitet. «In vielen Regionen der Erde leben Menschen, die die Natur gut kennen, aber auf eine andere Art als die Wissenschaft», erklärt er.
Gemeint ist damit etwa das Knowhow der Aborigines in Australien, das es ihnen über Jahrtausende ermöglicht hat, in der Wüste zu überleben. Oder die intime Kenntnis der Inuit über Eisbären, Robben und Schnee.
Solches Wissen aus Erfahrung ist nicht in Lehrbüchern niedergeschrieben. Es ist über lange Zeit mündlich weitergegeben worden, oft als Geschichten und Mythen.
Weniger präzise Sicht auf die Welt?
Nicht alle waren begeistert von der Idee, so genanntes traditionelles Wissen in den Bericht aufzunehmen, verrät Molnár. Diese Sicht auf die Welt sei manchmal anders als jene der Wissenschaft: weniger fundiert und weniger präzise, fürchten einige Forscher.
Warum der IPBES trotzdem traditionelles Wissen in seinen Bericht einfliessen liess, zeigt ein Beispiel: Zsolt Molnár arbeitet mit Hirten zusammen, die Schafe und Kühe auf den Steppen Ungarns weiden. Sie tun dies so, wie sie es von ihren Vätern und Grossvätern gelernt haben.
Vollständigeres Bild einer Landschaft
Anfangs war der Kontakt zwischen den beiden Welten nicht einfach. Ein Hirte sagte den Forschern, er sei von Forschern auch schon geringschätzig behandelt worden. Er sei aber nicht weniger wert, weil er keine Universität besucht habe.
Molnár sagt dazu: «Wenn man einem Hirten mit Respekt begegnet und ihm sagt, was man von ihm lernen will, ohne ihn zu belehren; wenn man Zeit auf der Weide verbringt, bei Hitze oder Regen, dann kann man sein Vertrauen gewinnen.»
«Ich habe von den Hirten zum Beispiel gelernt, wie man ein vollständigeres Bild einer Landschaft bekommt», sagt Molnár. Man dürfe nicht nur die physischen und biologischen Komponenten betrachten, sondern müsse auch die Menschen und ihre Nutztiere in die Gleichung aufnehmen.
Gemeinsame Lösungen für Naturschutz
Die Hirten ziehen mit ihren Tieren auch durch Schutzgebiete. Dabei prallen ihre Bedürfnisse öfter auf jene der Park-Ranger.
Wenn Wissenschaftler und Hirten die Natur gemeinsam erforschen, kann dies Konflikte vermeiden, sagt Molnár: «Gemeinsam kann man Lösungen entwickeln, die für Hirten und Naturschutz akzeptabel sind.»
Manche Hirten entfernen nun zum Beispiel grosse Büsche aus den Sümpfen. Das lockt im Sommer die Vögel an, und für die Nutztiere wächst besseres Gras.
«Es ist Zeit für einen Wandel»
Dass der Weltrat für Biodiversität Augen und Ohren hat für Hirten, Inuit, Aborigines und andere, sei eine gute Entwicklung, sagt George Nicholas. Der kanadische Historiker beschäftigt sich mit traditionellem Wissen und den Rechten indigener Völker.
«Der Kolonialismus hat viele Gesellschaften zur Seite geschoben, die Wissenschaft deren Wissen lange nicht wahrgenommen», meint er. «Es ist Zeit für einen Wandel.»
Traditionelles Wissen nicht romantisieren
In vielen Fällen habe die Wissenschaft mittlerweile traditionelles Wissen bestätigt. In Kanada zum Beispiel haben indigene Völker vor langer Zeit vor der Küste Muschelgärten angelegt, die äusserst produktiv sind.
Die Inuit in Alaska haben lange gesagt, dass sich die Populationen der Grönlandwale viel stärker erholt haben, als dies Forscher wahrhaben wollten. Genaue Zählungen haben den Inuit schliesslich recht gegeben.
Es gehe allerdings nicht darum, solches traditionelles Wissen zu romantisieren, sagt Nicholas: «Niemand behauptet, dass alles korrekt ist.» Genauso wenig wie man behaupten könne, dass alles, was die Wissenschaft verkünde, immer richtig sei. Man denke nur an die ständig wechselnden Ernährungsempfehlungen.
Ein vollständigeres Bild unserer Welt
Vieles, was traditionelle Gesellschaften weitergeben, ist aus wissenschaftlicher Sicht sperrig. Zum Beispiel die verbreitete Ansicht, dass alle Materie belebt sei.
«Deswegen aber alles traditionelle Wissen abzulehnen, ist falsch», sagt George Nicholas. Es sei vielmehr ein Anstoss für Debatten darüber, was gültiges Wissen sei und was nicht. Als Preis winke ein vollständigeres Bild unserer Welt.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Wissenschaftsmagazin, 24.03.2018, 12.40 Uhr