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Ein Gehörloser erzählt «Oft fragt man, ob meine Kinder auch gehörlos sind oder normal»

Er wird von blinkendem Licht geweckt, steht ab und zu am falschen Gleis: Joel Toggenburger über seinen stummen Alltag.

Das Vogelgezwitscher am Morgen, das Quietschen eines einfahrenden Zuges oder die Nachrichten im Radio: Töne gehören zu unserem Leben. Anders ist es für Joel Toggenburger. Der 30-Jährige spürt Klänge zwar, hört sie aber nicht.

Unser Autor hat den folgenden Text in einer Fremdsprache verfasst, denn seine Muttersprache ist die deutschschweizerische Gebärdensprache. Oft lassen sich die dreidimensionalen Gebärden nicht eins zu eins in die Schriftsprache übersetzen.

Zur Person

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Auf dem Bild ist Joel Toggenburger zu sehen.
Legende: ZVG

Joel Toggenburger ist gehörlos zur Welt gekommen. Heute wohnt er mit seiner Frau und ihren drei Kindern im Knonaueramt im Kanton Zürich. Hauptberuflich arbeitet er als Zeichner mit der Fachrichtung Ingenieurbau. Zudem ist er als Aussenreporter bei der RTS-Sendung «Signes» tätig.

Toggenburger kann Lippen lesen und versteht Hörende, wenn sie in normalem Tempo reden und kurze Sätze bilden.

Da ich gehörlos bin, sind viele Hörende neugierig, wie ich meinen Alltag lebe und welche Barrieren ich darin antreffe. Deshalb berichte ich hier nicht zum ersten Mal darüber. Aber diesmal möchte ich nicht nur Fragen beantworten, sondern auch Gegenfragen stellen.

Ich werde oft gefragt, ob meine Kinder ebenfalls gehörlos oder normal sind. Was meint man mit «normal»? Sind Hörende «normal» und ich folglich «abnormal»? Laut Duden also «krankhaft, selten, verrückt»? Die Gehörlosigkeit ist meiner Meinung nach weder eine Krankheit noch eine Behinderung. Ich sehe es so: Eine Person mit einer Behinderung wird wortwörtlich in ihrem Leben «be-hindert», sozusagen behindert gemacht.

Soziale Teilhabe läuft über die Sprache

Wir sind eine Sprachminderheit, ähnlich wie die Rätoromanen. Doch Rätoromanisch ist seit 1938 als vierte Landessprache in der Verfassung verankert. Zu den Gebärdensprachen schrieb der Bundesrat im Herbst 2021, dass die Anerkennung der schweizerischen Gebärdensprachen für ihn keine zwingende Voraussetzung sei, um die soziale Teilhabe von hörbehinderten und gehörlosen Menschen weiter zu verbessern. Das sehe ich anders.

Die Hörenden erschaffen die Welt, in der ich lebe. Beispielsweise kann ich Durchsagen im öffentlichen Verkehr nicht verstehen, weil bei ihrer Gestaltung nicht an uns Gehörlose gedacht wurde. Wenn sich ein Zug verspätet oder gar ausfällt, bekomme ich das nicht mit.

Schnell was zurufen? Unmöglich

Grundsätzlich unterscheidet sich mein Alltag von dem der Hörenden. Am Morgen werde ich statt von einem Weckruf von blickendem Licht geweckt. Bei meiner Arbeit als Zeichner kann ich nicht einfach über den Tisch hinweg einem Kollegen etwas zurufen. Ich muss immer eine Nachricht auf dem Laptop tippen. Gespräche in der Kaffeepause fallen auch weg. Für wichtige Sitzungen organisiere ich einen Gebärdensprachendolmetscher.

Wissenswertes und Fakten

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  • Unter Gehörlosigkeit versteht man eine hochgradige Einschränkung des Hörvermögens, sprich wenn man praktisch nichts mehr hört. Es wird anhand von Tonhöhe und Lautstärke zwischen Graden an Schwerhörigkeit unterschieden.
  • Laut dem Schweizerischen Gehörlosenbund (SGB-FSS) leben ungefähr 10'000 Gehörlose in der Schweiz. Bis zu 600'000 Personen gelten als leicht bis hochgradig schwerhörig. Eine offizielle Statistik dazu gibt es nicht. In den letzten Jahren sei zwar die hochgradig gehörlose Bevölkerung stabil geblieben, aber die Zahl der Hörgeschädigten habe deutlich zugenommen, schreibt der Gehörlosenbund auf Anfrage. Grund dafür seien die wachsende Anzahl älterer Menschen und junge Menschen, deren Gehör durch zu lautes Musikhören geschädigt werde.
  • Über 20‘000 Menschen nutzen in der Schweiz Gebärdensprachen. Darunter sind nicht nur gehörlose Menschen und ihre Angehörigen, sondern auch Fachleute, die Gebärden im Berufsalltag nutzen, sowie Menschen, die aus reiner Neugierde stumme Sprachen erlernen.
  • In der Schweiz umfasst die Gebärdensprache nicht nur die drei Landessprachen, sondern auch regionale Dialekte. Beispielsweise haben sich in der Deutschschweizerischen Gebärdensprache aus den ehemaligen grossen Gehörlosenschulen in Zürich, St. Gallen, Basel, Luzern und Bern fünf Dialekte entwickelt.
  • Etwa zehn Prozent der Gehörlosen und hörbehinderten Menschen sind arbeitslos. Das ist rund drei- bis viermal so hoch wie in der durchschnittlichen Erwerbsbevölkerung. Zudem sind Gehörlose und Hörbehinderte viel seltener in Führungsfunktionen vertreten. Diese Resultate brachte eine Studie der Hochschule Luzern aus dem Jahr 2020 hervor.

Dieser Mehraufwand beginnt schon in der Ausbildung. Weil der Unterricht in der Schule und später im Studium auf Hörende ausgerichtet ist, sind viele Gehörlose auf professionelle Gebärdendolmetscherinnen angewiesen. Das kostet. Und wer übernimmt diese Kosten?

In der Politik wird seit Langem darüber diskutiert. Weil meine Gehörlosigkeit nicht selbst verschuldet ist, bin in ich der Meinung, dass der Staat dafür aufkommen sollte. Das ist leider grösstenteils nicht der Fall.

Gehörlose werden schnell ausgeschlossen

Die Folge davon ist, dass nur wenige Gehörlose ein Studium abschliessen. Entsprechend haben sie grosse Schwierigkeiten, in gewissen Berufsbranchen einen Job zu ergattern. Dies vermittelt den Anschein, als wären wir Gehörlose weniger begabt. Was wiederum dazu führt, dass Gehörlose noch weniger unterstützt werden – ein Teufelskreis.

Was im Gehirn abgeht, wenn wir zuhören – oder eben nicht

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Was passiert im Gehirn, wenn Gehörlose in einer Gebärdensprache miteinander kommunizieren? Der Neuropsychologe Patrick C. Trettenbrein forscht dazu.

Herr Trettenbrein, gibt es beim Sprechen Unterschiede zwischen Hörenden und Gehörlosen?

Nein. Die Sprachverarbeitung findet in zwei Arealen in der linken Hirnhälfte statt – dem Broca-Areal und dem Wernicke-Areal. Sie bilden wichtige Knotenpunkte im Sprachnetzwerk des Gehirns und nehmen generell eine bedeutende Rolle ein, wenn wir Sprache verarbeiten – egal ob gebärdet, gesprochen oder geschrieben.

Das Gehirn ist also auf Sprache an sich spezialisiert und nicht aufs Sprechen.

Also lösen Gebärden bei Gehörlosen in diesen Regionen die gleichen neuronalen Effekte hervor wie Laute bei Hörenden?

Genau. Zumindest soweit wir dies mit derzeitigen Methoden feststellen können. Gebärden sind nicht nur reine Bewegungsabläufe oder gar Gesten, wie viele Hörende sie wahrnehmen, sondern Bestandteile von eigenständigen Sprachen mit eigener Grammatik und Bedeutung.

Gebärdensprache basiert auf der visuellen Wahrnehmung, so wie lesen. Worin unterscheiden sich beide Sprachformen?

Obwohl beide Informationen übers visuelle System wahrgenommen werden, verarbeitet das Gehirn andere Formen von Sprache: Wenn man einen Satz liest, braucht es keinen Sprecher. Die Gebärdensprachen hingegen verlangen immer einen Sprecher und das Gehirn verarbeitet deswegen auch nicht-sprachliche Informationen. Zum Beispiel in welcher Beziehung die Person, die gebärdet, zu ihrem Zuschauer steht. Das passiert in der rechten Hirnhälfte. Beim Lesen fällt dieser soziale Aspekt weg.

Für mich wäre es deswegen das Wichtigste, dass wir ungehindert Zugang zu Bildung hätten. Wir Gehörlose könnten dann beweisen, dass wir intelligente Menschen sind. Denn der einzige Unterschied zwischen Ihnen und mir ist die Sprache: Sie sprechen laut, ich mit Gebärden.

Einstein, 06.01.2022, 21:05 Uhr

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