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Eine Heldengeschichte «In unserer Familie nennen wir sie nur noch Jeanine Schutzengel»

Stress, Panik und die Angst vor Fehlern können Menschen daran hindern, bei Notfällen Erste-Hilfe zu leisten. Der Preis ist hoch: Die fehlende Zivilcourage kostet schweizweit jährlich fast 1000 Personen das Leben. Anders Jeanine Streule: Sie zeigt Mut und rettet das Leben einer zweifachen Mutter.

Tom Meier ist sichtlich berührt: «Ohne diesen Schutzengel wäre meine Frau Claudia heute nicht mehr bei mir und den Kindern.» Die 39-jährige Claudia Meier nickt: «Die junge Frau wusste, was zu tun ist – das hat mir das Leben gerettet.»

Der Schutzengel heisst Jeanine Streule, ist heute 29 Jahre alt und erinnert sich gut an den Novembermorgen 2021 im St. Galler Rheintal.

Auf dem Weg zur Arbeit nähert sich die Primarlehrerin mit ihrem Wagen einer Unfallstelle. Im Autowrack eine leblose junge Frau, die Lippen blau angelaufenen. Zwei überfordert wirkende Männer winken Jeanine durch: hier gibt es nichts zu sehen, wird ihr suggeriert. Doch Jeanine wundert sich, warum niemand die Frau aus dem Auto nimmt und reanimiert.

Die bewusstlose Frau im verunfallten Auto ist Claudia Meier. Während der Fahrt hat die Gemeindemitarbeiterin einen Herz-Kreislauf-Stillstand erlitten und atmet nicht mehr. Dass sie mit dem Auto in ein Brückengeländer krachte, daran erinnert sie sich nicht.

Aber anhand des Polizeiberichts kann sie teilweise rekonstruieren, was danach geschah. Demnach haben zwei Lieferwagenfahrer gehalten, nicht gewusst, was zu tun ist, aber immerhin den Rettungswagen alarmiert. Auch haben die Männer mit ihrem Fahrzeug die Unfallstelle vor neugierigen Blicken geschützt. «Aber zum Glück», so Claudia Meier, «ist Jeanine nicht einfach weitergefahren – sondern hat begonnen, mich zu reanimieren.» 

Die Reanimation kostet Überwindung

Bis zum Eintreffen des Rettungswagens führt Jeanine Streule bei Claudia Meier eine Herzdruckmassage durch. Es hilft, dass sie Tage zuvor zur Auffrischung einen Nothilfekurs besucht hat. Aber zu beatmen, das traut sie sich nicht: «Zum Ende der Pandemie traute ich mich das nicht.»

Grosse Überwindung kostet, die Lebensretterin zu spüren und zu hören, wie Claudia Meiers Rippen durch die Reanimation brechen. Als die Rettungssanitäter übernehmen, bekommt die immer noch bewusstlose Claudia Meier Elektroschocks mittels eines Defibrillators und wird mit einem Helikopter ins Spital geflogen. Erst später erfährt Jeanine Streule durch das Care-Team der Polizei, dass Claudia Meier überlebt hat.

Wenn der Schutzengel zur Freundin wird

Um sich zu bedanken, setzt Tom Meier alles daran, die Retterin seiner Frau zu finden. Der Zufall will, dass eine Bekannte vom Unfall gehört hat und Jeanine Streule kennt. «Als ich mit ihr telefonierte», so Tom Meier, «brachte ich vor lauter Dankbarkeit fast kein Wort über die Lippen.»

Jeanine Streule selbst dachte lange mit gemischten Gefühlen zurück an die Rettung: «Obwohl Claudia überlebt hat, machte mir die Vorstellung Mühe, was wäre geschehen, wenn ich versagt hätte?» Erst die Bestätigung von der Polizei, den Sanitätern und vor allem von Claudia Meier selbst haben sie wieder beruhigt: «Ängste sind unbegründet, man kann nur etwas falsch machen, wenn man nichts tut.» Für Claudia Meier war es wichtig, Jeanine Streule kennenzulernen und mittlerweile ist eine Freundschaft entstanden. «In unserer Familie nennen wir sie nur noch ‹Jeanine Schutzengel›», erklärt Claudia Meier.

Puls, 06.05.2024, 21:05 Uhr

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