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«Schon als Kind habe ich mich gefragt, warum ein Regenbogen entsteht und wie dies geschieht. Solche Warum- und Wie-Fragen haben mich beschäftigt. Nur war mir nicht bewusst, dass es dabei um Physik geht», sagt die Studentin Märta Tschudin aus Basel. Sie will Experimentalphysikerin werden.
Derzeit arbeitet sie für ihre Masterarbeit in einer Versuchsanlage des Quantum Sensing Lab ihres Professors Patrick Maletinsky an der Universität Basel. Bei einem Rundgang durch ein verdunkeltes Labor erklärt sie, worum es dabei geht: «Wir messen hier bei sehr tiefen Temperaturen mit einem Sensor aus Diamant und Laserlicht kleine Magnetfelder.»
Tricks und Kniffe
Die Erkenntnisse aus dieser Forschung könnten später dazu dienen, neue Produkte zu entwickeln – zum Beispiel biegbare Bildschirme, sagt die 23-Jährige. Für das «Setup» eines solchen Experimentierfelds seien «viele Tricks und Kniffe» nötig.
Auch die handwerklichen Fähigkeiten einer leidenschaftlichen Bastlerin seien gefragt: «In der Experimentalphysik kann man Mathematik, Physik, logisches Denken und Kreativität verbinden. Das gefällt mir.»
Schweiz hinkt europaweit hinterher
Dass Märta Tschudin Experimentalphysikerin werden will, ist in der Schweiz keine Selbstverständlichkeit. Frauen sind in den exakten Wissenschaften wie Mathematik, Physik und Informatik sowie Ingenieurwissenschaften «deutlich untervertreten», wie der aktuelle Bildungsbericht Schweiz 201 8 festhält. Auffallend sei, dass Frauen selten ein Studium im Spektrum von MINT wählen – die Abkürzung steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik.
Von sechs Abschlüssen in MINT-Fächern gehen fünf an Männer – nur einer an eine Frau. In kaum einem anderen europäischen Land ist der Frauenanteil so tief wie in der Schweiz.
Erste Hürden in der Primarschule
Ersten Stolpersteinen auf einem Bildungsweg, der zu einem MINT-Studium führen könnte, begegnen Mädchen bereits in der Primarschule. Zwar übertreffen sie bis zur dritten Klasse ihre Schulkollegen beim Rechnen, aber danach verlieren sie ihren Vorsprung wieder.
Am Ende der Primarschule schneiden sie nicht nur in Mathematik, sondern auch in Naturkunde und Technik schlechter ab. Dies hat 2017 eine Studie für die Kantone der Nordwestschweiz ergeben.
Knaben schreiben sich höhere Kompetenzen zu
Diese Untersuchung ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Interesse für diese Fächer bei Mädchen zwar da ist, aber im Lauf der Primarschule wieder abhandenkommt.
Eine weitere neue Studie , die einen grossen Datensatz des deutschen Bildungspanels auswertet, zeigt: Knaben schreiben sich bereits in der fünften Klasse höhere Kompetenzen in Mathematik zu als Mädchen – und zwar in einem Mass, das nicht ihren Leistungen entspricht. Die Schweizer Bildungsforscherin Margrit Stamm hat kürzlich darauf aufmerksam gemacht .
Unterschiedliches Selbstvertrauen
Diese Untersuchungen deuten also darauf hin, dass der Unterricht in der Primarschule bei Mädchen und Knaben unterschiedliche Vorlieben erzeugt. Das vermittelte Selbstvertrauen spielt dabei eine Rolle.
Die Physikerin Emmanuelle Giacometti stützt diese These. Als Direktorin des « Espace des inventions » in Lausanne organisiert sie Ausstellungen und Lernateliers über Wissenschaft und Technik, die sich an Kinder und Familien wenden.
Angst, einen Fehler zu machen
Dabei beobachtet sie, dass das Selbstvertrauen der Mädchen oft weniger ausgeprägt ist. Womit dies zu tun hat, ist eine Frage, mit der sie sich auch als Mitglied im Vorstand der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz befasst.
Emmanuelle Giacometti vermutet, dass Mädchen bereits in den ersten Lebensjahren auf subtile Weise bestimmte Rollen zugeschrieben werden. Dies könne sich später in einem bestimmten Verhalten ausdrücken: etwa in der Angst, einen Fehler zu machen, wenn es wie in der Mathematik um «richtig» oder «falsch» gehe, oder zu versagen, wenn ein Problem nicht auf Anhieb gelöst werden kann.
Den Wissensdrang ernst nehmen
Die Physikstudentin Märta Tschudin sagt, dass sie in ihrem Selbstvertrauen von klein auf gefördert worden sei. So seien ihre Eltern, die beide studiert haben, stets auf ihre kindlichen Fragen eingegangen, auch wenn sie nicht immer alles gewusst hätten.
Ob es um den Regenbogen oder um eine Bastelarbeit ging – sie sei mit ihrem Wissensdrang ernst genommen und bei ihren Ideen unterstützt worden. Diese ermutigende Erfahrung habe sich positiv auf ihre Schullaufbahn und auf die Wahl des Physikstudiums ausgewirkt, ist die junge Frau überzeugt.
«Verletzung der Chancengerechtigkeit»
Ob ein nach Geschlechtern getrennter Unterricht in diesen Fächern das Selbstvertrauen von Schülerinnen erhalten und fördern könnte, sei nicht klar, sagt Emmanuelle Giacometti. Es gebe schweizweit Hunderte von MINT-Projekten auf allen Stufen, auch einige, die sich ausschliesslich an Mädchen wenden. Aber man wisse wenig über die Wirksamkeit solcher Programme.
Die schlechteren Leistungen der Mädchen in Mathematik, Naturwissenschaften und Technik am Ende der Primarschule bleiben in der Sekundarschule hartnäckig bestehen. Das haben seit 2000 sechs Pisa-Studien hintereinander nachgewiesen.
Der Bildungsbericht Schweiz 2018 spricht von einer «Verletzung der Chancengerechtigkeit». Ob es in der Sekundarschule nur an mangelndem Selbstvertrauen der Mädchen und damit an einem geringeren Interesse an diesen Fächern liegt, ist aber fraglich.
Lehrpersonen sind voreingenommen
Eine Studie der ETH Zürich von 2015 hat offengelegt, dass Lehrpersonen in der Schweiz Schülerinnen im Fach Physik bei gleicher Leistung markant schlechter benoten als Knaben. Dabei orientieren sich die Lehrerinnen und Lehrer an Vorurteilen.
Selbstvertrauen, das in der Primarschule verloren geht, und eine voreingenommene Leistungsbewertung auf der Sekundarstufe: Vor diesem Hintergrund erstaunt es kaum, dass sich die meisten Mädchen nach den neun obligatorischen Schuljahren nicht mehr für exakte Wissenschaften und Technik interessieren.
Einfluss auf die Berufswahl – und damit auf den Lohn
Wenn Mädchen eine Lehre beginnen, wählen sie denn auch mehrheitlich einen Beruf, der nur wenig mathematische Fähigkeiten verlangt. Dies schränkt die Auswahl im Spektrum der Berufe ein und wirkt sich später auch auf den Lohn aus.
Auch die jungen Frauen, die in ein Gymnasium übertreten, machen mehrheitlich einen Bogen um den Schwerpunkt Mathematik und Physik. Das beeinflusst später auch die Wahl des Studienfachs.
Die Schweiz gewinnt zu wenig Frauen für MINT-Berufe
Dass junge Frauen in Männerdomänen wie Mathematik, Physik, Informatik und Technik kaum Fuss fassen, ist ein bildungspolitisches Problem. Wie kommt es, dass es die Schweiz nicht schafft, genügend Fachkräfte im MINT-Bereich auszubilden und besonders junge Frauen dafür zu gewinnen?
Und dies zu einem Zeitpunkt, in dem sich die junge weibliche Generation punkto Bildung auf der Überholspur befindet: Mehr junge Frauen als Männer machen heute eine Matura, mehr als die Hälfte der Studierenden an den Universitäten ist weiblich. Auch in ehemaligen Männerdomänen wie der Medizin sind mittlerweile überwiegend Frauen anzutreffen.
Keine Lust, sich zu messen?
Eine neue Studie eines Forschungsteams um den Berner Bildungsökonomen Stefan C. Wolter hat vor Kurzem eine Erklärung geliefert, die Schlagzeilen gemacht hat. Sie stellte fest, dass sich vor allem jene Jugendliche für Physik und Mathematik entscheiden, die «eine hohe Bereitschaft» hätten, sich im Wettbewerb mit andern zu messen. Diese Neigung sei bei «talentierten Männern» stark ausgeprägt, bei Frauen hingegen nicht.
Für die Physikerin Emmanuelle Giacometti ist diese Erklärung nicht stichhaltig. Sie glaubt nicht, dass die Lust, sich zu konkurrenzieren, mit dem Interesse an einem MINT-Fach und der Studierfähigkeit massgeblich zusammenhänge.
Wettbewerb ist nicht gleich Wettbewerb
Die Studentin Märta Tschudin sagt, es komme bei Wettbewerben immer auch darauf an, wer sich mit wem und aus welchem Antrieb misst. Ein monetärer Anreiz, wie er in der bildungsökonomischen Studie vorgegeben wurde, findet sie wenig interessant.
Auch beteilige sie sich lieber an Wettbewerben, die von Gruppen ausgetragen werden. Angesichts der interdisziplinären Teamarbeit, die es heute in der Forschung für hervorragende Resultate braucht, scheint denn der Einzelkämpfer-Wettbewerb auch nicht die angemessene Form.
Strukturelle Defizite
Auch wenn Märta Tschudin die genannten Hürden – von der Primarschule über die Sekundarstufe bis ins Gymnasium – genommen hat und heute die Fähigkeit und das Selbstvertrauen hat, Experimentalphysikerin zu werden: Strukturelle Defizite sieht auch sie.
Am Departement für Physik der Universität Basel, wo sie studiert, forschen neben dreizehn Professoren gerade einmal zwei Professorinnen. Weibliche Vorbilder sind rar.
Stresstest nach dem Studium
Der einschneidende Gender-Stresstest findet am Übergang vom Studium in den Beruf statt. Auch wenn Frauen in der Schweiz als Mathematikerin, Physikerin, Informatikerin oder Ingenieurin in den Beruf einsteigen – so manche von ihnen verabschiedet sich bald wieder.
Auch da kommt der Bildungsbericht Schweiz 2018 zu einem kritischen Befund: Je höher der Männeranteil in der Berufsgruppe, desto höher die Ausstiegsquote der Frauen.
Was macht der Mann?
Verstärkt wird der Abgang aus den Männerdomänen zusätzlich dadurch, dass sich eine intensive Forschungstätigkeit nur schwer mit einem kinderfreundlichen Familienleben verbinden lässt. Dies sei öfters ein Thema, sagt Märta Tschudin.
Etwa dann, wenn eine Physikerin für ein Referat an die Universität Basel eingeladen werde. Dann würden sich Studentinnen, Doktorandinnen und die wenigen Professorinnen treffen und über akademische Laufbahnen und Frauenförderung sprechen.
Eine wichtige Frage dabei sei immer wieder: «Was arbeitet der Ehemann?» Denn verfolgt er ebenfalls eine Forscherkarriere, wird eine Kinderbetreuung noch schwieriger.