Zum Inhalt springen

Heilender Glaube? Pilgern nach Lourdes: Eine Reise ins Herz der Hoffnung

Im Zeitalter der evidenzbasierten Medizin pilgern jährlich tausende Kranke aus der Schweiz zum Marien-Wallfahrtsort in Frankreich. Und obwohl die meisten nicht an eine wundersame Heilung glauben, reist die Hoffnung doch stets mit. Was finden sie hier, das ihnen die Medizin nicht bietet?

Natürlich hat Lourdes einen eigenen Flughafen. Nicht etwa für die knapp 13’000 Einwohner, sondern für die oft beeinträchtigten Pilgerinnen und Pilger, die hier Heilung suchen. In diesem Flug bin auch ich dabei, weil ich herausfinden will: Was macht Lourdes mit diesen Menschen? Können Glaube und Spiritualität die Gesundheit positiv beeinflussen?

Am Flughafen

Beim Check-in lerne ich Gerda Löw kennen. Die gepflegte Frau im mittleren Alter hat vor Jahren einen Schlaganfall erlitten und ist für ihre Reise auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie pilgert zum zweiten Mal nach Lourdes und hofft, dort Kraft zu tanken.

Kraft tanken: Das werde ich noch von vielen Seiten hören. Geht es nur um das, oder hoffen viele nicht doch insgeheim auf eine Heilung? Ich bin dem Wallfahrtsort gegenüber kritisch eingestellt und frage mich, ob Menschen, die es ohnehin schon schwer haben, mit falschen Hoffnungen nach Lourdes pilgern.

Bei der Grotte

Es ist vor allem die Grotte von Lourdes, zu der die Menschen wollen. Hier soll der 14-jährigen Bernadette Soubirous 1858 mehrmals eine Frau in weissem Gewand erschienen sein. Diese Erscheinung sei gemäss der Interpretation der Kirche die Mutter Gottes gewesen – also Maria. Von ihr habe Bernadette den Auftrag bekommen, eine Kapelle errichten zu lassen und bei der Quelle zu baden und davon zu trinken. Schnell spricht sich herum, dass das Wasser eine heilende Wirkung habe.

Tatsächlich können Glaube und Spiritualität einen positiven Einfluss auf die Gesundheit haben, das ist mit Studien – vor allem aus den USA – gut belegt:

  • Menschen einer religiösen Gemeinschaft bewegen sich mehr und ernähren sich besser.
  • Sie pflegen mehr Freundschaften und sind seltener im Spital.
  • Ihre Verhaltensregeln regulieren oder verbieten den Umgang mit Drogen wie Alkohol oder gesundheitsschädlichen Angewohnheiten wie Rauchen.
  • Verordnete Ruhetage sorgen für Stressreduktion und stärken damit das Immunsystem.

Allerdings brauche es für diese Effekte nicht unbedingt eine religiöse Gemeinschaft, meint Dorothea Lüddeckens, Religionswissenschaftlern an der Universität Zürich: «Das kann auch ein Tanzverein sein. Der Unterschied bei religiösen Gemeinschaften ist, dass sie auch noch einen Sinn vermitteln, der über das Tanzen hinaus geht.»

«Gott weiss schon, warum»

Und genau dieser Sinn kann auch bei der Bewältigung einer Krankheit eine positive Rolle spielen, so Lüddeckens: «Spiritualität und Religion bieten die Möglichkeit, eine Krankheit in etwas Grösseres einzuordnen.» Spirituelle Angebote könnten helfen zu verstehen, warum man krank ist.

Die Einsicht «nicht ich bin schuld, sondern Gott weiss schon, warum» könne ungemein entlastend wirken und gleichzeitig auch stark machen. Nach Lourdes pilgern zum Beispiel gebe die Möglichkeit, etwas zu tun und ein Gefühl von Selbstwirksamkeit zu verspüren.

Diesen höheren Sinn suchen nicht nur Christen weltweit. Auch Menschen, die wie ich dem Hinduismus angehören, zieht es nach Lourdes. Ich treffe bei der Grotte eine sehr alte Frau, die jedes Jahr aus Indien anreist. Die Pilgerreise ist für sie kein Widerspruch zur eigenen Religion. Maria, so erklärt mir die Frau, sei wie ihre Hindu-Götter, eine weitere Heiligkeit. Sie betet hier für ihre Familie und dafür, dass sie leicht gehen kann, wenn ihre Zeit gekommen ist.

Bei der Abfüllstation

Auch meine tamilische, hinduistische Familie ist nach Lourdes gereist, als ich noch ein Kind war. Ich erinnere mich an die Plastikflasche in Maria-Form, die wir damals mit Lourdes-Wasser aufgefüllt und mit nach Hause genommen haben.

Tama Vakeesan mit Plastikflasche
Legende: Klassisches Mitbringsel: Plastik-Maria mit Lourdes-Wasser. srf

Das tue ich auch dieses Mal wieder, weil es nun mal so gemacht wird – nützt es nicht, schadet es nicht. Lourdes gilt auch in der tamilisch-hinduistischen Community als heiliger Kraftort. Für viele von uns kein Konflikt mit der hinduistischen Religion, sondern eine Ergänzung.

In der unterirdischen Basilika

Der internationale Gottesdienst findet in der unterirdischen Basilika statt. Der massive Betonbau hat Platz für bis zu 25'000 Menschen – und wirkt leicht bedrohlich. Erst, als sich die Basilika mit Massen von Pilgern füllt, verändert sich die Energie im Raum. In der Menge fühlt es sich unterdessen wie bei einem Musikfestival an. Fast so, als wären die Bischöfe Popstars und wir die Fans: Wird eine Pilgergruppe in ihrer Landessprache angesprochen, jubelt sie den Geistlichen lauthals zu.

«Puls in Lourdes» (2012)

Box aufklappen Box zuklappen
Postkarte von Lourdes
Legende: SRF

«Puls»-Arzt Thomas Kissling reiste im «grünen Zug» mit, der Schwerkranke aus der Schweiz zum Marien-Wallfahrtsort brachte.

Die dreiteilige Serie kann hier nacherlebt werden.

Glaube kann auch schaden

Dass dem unbedingten Glauben an die Kraft der Religion auch Gefahren innewohnen, kann ich mir in diesem Moment gut vorstellen. Roger von Moos, Krebsspezialist am Kantonsspital Graubünden, erlebt dies immer wieder in seiner Praxis: «Ein- bis zweimal pro Jahr habe ich Patienten oder Patientinnen, die sich nicht behandeln lassen wollen. Sie wollen sich auch bei einer Krebserkrankung rein auf ihren Glauben verlassen und sich damit der schulmedizinischen Behandlung entziehen.»

Wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt dann doch zurückkommen, sind sie häufig in einem Tumor-Spätstadium mit vielen Metastasen. «Wir hatten kürzlich einen Fall einer Patientin, die sich in einer spirituellen Therapie im Ausland behandeln liess und dann in einem absoluten Spätstadium zu uns gekommen ist», erinnert sich der Krebsspezialist. «Wir konnten sie nur noch auf dem letzten Weg, den letzten Wochen in den Tod begleiten.»

Sobald der Glaube keine Ressource mehr ist, sondern Schuld projiziert, wird es problematisch.
Autor: Dorothea Lüddeckens Religionswissenschaftlern

Religionswissenschaftlern Dorothea Lüddeckens kennt diese negativen Aspekte ebenfalls. Sobald der Glaube keine Ressource mehr sei, sondern Schuld projiziere, werde es problematisch. «Ich bin krank, ich bin selbst schuld daran. Ich habe mich nicht richtig verhalten und ich werde womöglich nicht gesund, weil Gott mich weiterhin strafen will.» Diese Überzeugung führe bei Menschen zu chronischem Stress, der die Widerstandskräfte und das Immunsystem schwächt.

Auch die sozialen Kontakte einer Glaubensgemeinschaft können sich nicht nur positiv, sondern auch negativ auf die Gesundheit auswirken. Zum Beispiel, wenn der Druck, sich an religiöse Regeln zu halten, für den Gläubigen nicht mehr stimmt. Oder wenn die sexuelle Ausrichtung von der Glaubensgemeinschaft nicht akzeptiert wird. Dieser soziale Druck kann zur grossen psychischen Belastung werden und zu körperlichen Krankheiten führen.

Im Accueil

In der Gemeinschaft der Pilgergruppe aus der Schweiz, die auf Pflegekräfte angewiesen ist, ist davon nichts zu spüren. Hier lerne ich Blanka Kälin kennen. Blankas Hände sind zwar nicht voll ausgebildet, ihren elektrischen Rollstuhl kann sie aber selbständig bedienen. Sie erzählt, wie sehr sie die gute Gesellschaft, der herzliche Umgang der Freiwilligen und auch der Glaube an Gott tragen würden.

Ich beginne zu verstehen, dass die Menschen nicht nur wegen der angeblichen Heilkraft von Lourdes hinreisen. Der soziale Aspekt ist mindestens so wichtig, wenn nicht wichtiger. Für viele ist es auch die einzige Reise im Jahr.

Im Gemeinschaftssaal

Hier geht die Post ab! Mit Handörgeli, Mundharmonika und Jodlern heizt die Band dem Gemeinschaftsraum ein. Der ganze Saal singt bei den Liedern mit. Die Lebensfreude der Pilgergruppe ist hier am deutlichsten zu spüren. Teil der Band ist der Hausarzt Emil Pfister. Er war der Hausarzt von Bruder Leo, dessen Heilung von Multipler Sklerose in die Geschichte eingegangen ist. Es ist der einzige Fall aus der Schweiz, der von der katholischen Kirche als Wunderheilung anerkannt wurde.

7000 Beurteilungen, 70 Wunder

Box aufklappen Box zuklappen

Seit der Erscheinung der Jungfrau Maria vor Bernadette Soubious in der Grotte von Lourdes wurden Tausende von Heilungsberichten gesammelt – ab 1883 im Bureau des constations médicales («Büro für medizinische Befunde») in Lourdes.

Wer von sich denkt, eine aussergewöhnliche Heilung ohne Behandlung erfahren zu haben und dies mit Lourdes in Zusammenhang bringt, kann dort ein Dossier mit seinen Krankenakten einreichen. Der lokale Arzt unterzieht dieses Dossier einer ersten Prüfung. Folgende Kriterien müssen erfüllt sein, damit es weitergereicht werden kann:

  • Die Krankheit muss der Medizin bekannt und schwerwiegend sein.
  • Die Krankheit muss eine ungünstige Prognose haben.
  • Für die Krankheit muss es objektive, biologische, radiologische Kriterien geben. Psychische Krankheiten werden nicht geprüft.
  • Es darf keine Behandlung geben, der die Heilung zugerechnet werden könnte.
  • Die Heilung muss augenblicklich und unerwartet stattgefunden haben.
  • Ein Rückgang der Symptome reicht nicht. Es muss eine Rückkehr von Funktionen erfolgt sein.
  • Die Heilung muss dauerhaft und endgültig sein.

Sind all diese Kriterien erfüllt, wird das Dossier an das «Comité médical international de Lourdes» weitergereicht. Dieses besteht aus 30 Ärzten aus aller Welt, die den verschiedensten Fachrichtungen angehören. Je nach medizinischer Indikation wird der Fall an einen oder zwei Ärzte aus dem Komitee zur Überprüfung übergeben.

Mittels Arztberichten, medizinischen Bildern und neu angesetzten Untersuchungen wird dann versucht herauszufinden, ob die Heilung nach neuster Wissenschaft der Medizin zum jeweiligen Zeitpunkt medizinisch erklärbar ist oder nicht.

Einmal im Herbst trifft sich das Komitee in Lourdes und beurteilt die Dossiers. Erst, wenn keine zusätzlichen Unterlagen mehr vom Komitee gefordert werden, kommt es zur Abstimmung, die eine Zweidrittelmehrheit erfordert. Bis es zu so einer Abstimmung kommt, vergehen oft zehn Jahre oder mehr. Die Aufgabe des medizinischen Komitees ist damit abgeschlossen.

Ob ein Fall zum Wunder erklärt wird, ist Aufgabe der Kirche. Bis heute sind es deren 70 – nach über 7000 vom Komitee überprüften, eingereichten Heilungen. Das letzte Wunder wurde 2018 deklariert: Die französische Ordensfrau Bernadette Moriau war von ihrer Lähmung geheilt worden.

Als Emil von Bruder Leo spricht, kommen ihm die Tränen. Er sei wie ein Vater für ihn gewesen und er glaube ihm, dass sein Glaube ihn geheilt habe. Das, obwohl er Mediziner ist. Das Gespräch geht mir sehr nahe. Wunderheilungen als Humbug abzutun, fällt mir in diesem Moment besonders schwer. Ich gehe auf die Dachterrasse, um durchzuatmen und Distanz zu gewinnen. Ich brauche einen klaren Kopf.

Fazit: Lourdes wirkt – auf welche Weise auch immer

Diese Begegnungen sind es, was mir aus Lourdes bleibt. Ich habe wunderbare Menschen getroffen, die mit mir über ihr Innerstes gesprochen und ganz offen ihre Sorgen und Hoffnungen mit mir geteilt haben. Dafür bin ich zutiefst dankbar.

Trotz meiner kritischen Haltung kann ich mich der positiven Energie in Lourdes nicht entziehen. Die Menschen hier legen eine unglaubliche Lebensfreude an den Tag, obwohl sie schwere Schicksale zu tragen haben. Dass die Pilgerreise den Menschen die gewünschte Kraft gibt, ist für mich mittlerweile klar. Ob es am gemeinsamen Singen, der geschenkten Aufmerksamkeit, der Möglichkeit zu verreisen oder doch am Glauben an Gott liegt – wer kann das schon mit Sicherheit sagen?

«Wenn Sie mich persönlich fragen: Ja, ich glaube an Wunder»

Box aufklappen Box zuklappen
Cornelius Sieber
Legende: SRF

Cornelius Sieber ist Facharzt für Innere Medizin in Winterthur. Seit 2014 beurteilt er mit 29 anderen Fachärzten als Mitglied des internationalen medizinischen Komitees von Lourdes wundersame Heilungen aus aller Welt.

SRF: Wie hat Ihr Umfeld reagiert, als sie dem internationalen Ärztekomitees von Lourdes beigetreten sind?

Cornelius Sieber: Ich war überrascht, wie gross das Interesse an dieser Funktion war. Wir leben in einer Zeit der evidenzbasierten Medizin – diese erwartet man von mir, auch als akademischer Lehrer. Dazu wussten viele vielleicht nichts von meiner spirituellen Seite. Diese trage ich jetzt nicht so nach aussen.  

Sind Sie denn religiös?

Das habe ich mich auch gefragt, als die Anfrage vom Komitee kam. Die Antwort ist: Ja, auf eine gewisse Art schon, ich glaube schon an etwas Höheres. Ich bin auch im katholischen Glauben aufgewachsen, war Ministrant als Junge. Es gab sicher Lebensphasen, wo ich den katholischen Glauben oder die Kirche distanzierter gesehen habe.

Wie unabhängig ist das Komitee in seiner Arbeit?

Ich habe noch kein Komitee erlebt, das so unabhängig ist. Wir sind weder inhaltlich noch zeitlich noch durch den Ort Lourdes beeinflusst. Wir gehen da als Mediziner rein und schauen das streng an. Manchmal brauchen wir für die Beurteilung mehr als zehn Jahre, weil das Komitee noch ein Dokument mehr sehen will oder noch eine Untersuchung anordnet, bevor wir abstimmen können. Das ist kein «Abnickverein», sondern eine sehr kritische Gruppe und gerade darum auch ein persönlicher Gewinn für mich.

Glaubt Cornel Sieber an Wunder?

Wenn Sie mich als Cornel Sieber fragen, dann würde ich sagen: Ja, ich glaube daran.

Wunder bleiben für immer ein Wunder – auch wenn der medizinische Fortschritt frühere Wunder heute vielleicht erklären könnte, oder?

Das ist so. Auch wenn das, was man damals beurteilt hat, heute vielleicht anders gesehen würde. Darum betonen wir ja auch immer: Unsere Aufgabe ist nur, anhand vom aktuellen Wissensstand der Medizin und mit einer sehr breiten Palette von Spezialisten herauszufinden, ob wir eine Heilung zu diesem Zeitpunkt wissenschaftliche erklären können oder nicht. Eine ziemliche Sherlock-Holmes-Aufgabe.

Puls, 22.05.2023, 21:05 Uhr

Meistgelesene Artikel