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Mensch «Ich habe alles gewonnen, andere haben alles verloren»

Ilko-Sascha Kowalczuk forscht über die Rolle der Wissenschaft in der DDR und erzählt, wie die Partei die Forschung indoktrinierte und wie der Mauerfall alles auf den Kopf stellte. Er selbst durfte erst nach der Wende studieren.

SRF: Was hat sich für Sie persönlich nach 1989 geändert?

Ilko-Sascha Kowalczuk: Alles. 1989/90 war ich 23 Jahre alt. In der DDR durfte ich kein Abitur machen und nicht studieren, ich durfte eine Maurerlehre machen. Und war dann Pförtner. Die Revolution 1989 habe ich als Selbstbefreiung erlebt. Nun konnte ich auch studieren.

Zur Person

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Legende: Imago

Ilko-Sascha Kowalczuk wurde 1967 in Ost-Berlin geboren. Nach einer Ausbildung zum Baufacharbeiter arbeitete er als Pförtner. Ab 1990 studierte er Geschichte und promovierte 2002. Seit 2001 arbeitet er beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in der Abteilung Bildung und Forschung.

Warum wurden einige DDR-Bürger nicht zum Studium zugelassen?

Fast nirgendwo waren die Türen so schmal, um studieren zu können, wie in der DDR. In den 70er- und 80er-Jahren entschied ein strenges politisches Auswahlverfahren darüber, wer überhaupt Abitur machen durfte. Damit war schon das erste Selektionskriterium gegeben. Das zweite bestand darin, zu entscheiden, wer was studieren konnte. Es wurde genau geplant, wie viele Techniker, Agrarwissenschaftler oder Historiker in zehn Jahren benötigt werden würden. Nach diesem Planungsmuster wurden die Leute zugelassen.

Nach welchen Kriterien wurde ausgesucht?

Der Prozess fing schon ganz früh an. Man ist sein ganzes Schulleben beobachtet worden. Es gab politische Unterrichtsfächer, es gab militärpolitische Fächer – man kann seine wahre Gesinnung auf Dauer in so einem System nicht verbergen. Zur Studienzulassung wurde auch das ganze Umfeld angeschaut. Zum Beispiel wurde überprüft, was die Eltern machen, wie sie politisch denken.

Baute denn die Forschung in der DDR auf der Ideologie auf?

Ganz wichtig ist zunächst eins: Das sozialistisch-kommunistische Regime hat sich als ein System definiert, das auf wissenschaftlicher Erkenntnis basiert und durch Wissenschaft funktioniert. Deshalb hatte alles, was mit Wissenschaft zu tun hatte, ein unglaublich hohes Ansehen. Das System vereinnahmte von vorneherein die Wissenschaft und begrenzte sie so in ihren Erkenntnismöglichkeiten. Das galt besonders für die Geschichtswissenschaften.

Können Sie das genauer erklären?

Die Geschichtswissenschaften waren extrem wichtig für die Herrschenden, weil Geschichte die wichtigste Legitimations-Instanz darstellte. Das System legitimierten sie ja nicht durch Wahlen oder andere demokratische Verfahren, sondern durch die Geschichte: Der Marxismus-Leninismus lehre uns, dass der Kommunismus aufgrund einer Geschichtsspirale beinahe automatisch entstehe. Bei der Studentenauswahl griffen dann harte politisch-ideologische Selektionskriterien. Auch in der Forschung wussten die Historiker ja im Prinzip schon im Vorfeld, was sie herausfinden sollten. Viele leugnen das, aber im Kern ist das nicht angreifbar, weil die gesamten Gesellschaftswissenschaften, auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus erfolgen mussten. Insofern herrschte an den Institutionen der DDR ein anderer Geist als der von freien Intellektuellen.

Das Portalrelief zeigt ein Bild von Marx, umgeben von Arbeitern.
Legende: Wissenschaftsgrundlage Marxismus-Leninismus: Ehemaliges Portalrelief am Haupteingang der Karl-Marx-Universität Leipzig. Imago

Wie sah das in den anderen Fächern aus?

Ausserhalb dieser politischen Fächer war das System auf technokratische Eliten angewiesen, die auch tatsächlich wissenschaftlich etwas leisten konnten. So gab es vor allem in den 70er und 80er Jahren für die Naturwissenschaften weitaus weichere Aufnahmekriterien und demzufolge grössere Spielräume. Da hat man geguckt, dass man auch wirklich künftige Fachleute rekrutiert, die etwas leisten können. Da spielte die politische Ideologie auch eine Rolle, aber lange nicht so stark wie bei den anderen Fächern.

Wie gelang es der Partei, dass die Forscher «konform» forschten?

Die Wissenschaft ist nicht einem Parteiwillen unterworfen worden, sondern die einzelnen Wissenschaftler waren das System. Sie waren die Partei. Es wird oft gesagt, die Wissenschaftler seien instrumentalisiert worden, aber das ist nicht ganz richtig. Man hatte das alte System verdrängt und hat es durch neue Strukturen und Subjekte ersetzt, die von vorneherein gar keine Interessensdifferenz mit den Herrschenden hatten. Es geht immer darum, die Individuen, die es wagen, sich in ihrer Individualität zu behaupten, rauszunehmen oder zu brechen. Damit die das Kollektiv nicht zerstören. So wurde der Forschungsprozess geprägt.

Gab es Einschränkungen in der alltäglichen Forschungstätigkeit aus?

Das fing schon mit der Frage an, wie die Forscher überhaupt zu ihrem Thema kamen. Es war nicht so, dass man sich alles frei auswählen konnte. Man konnte natürlich Vorschläge machen, aber auch in der Wissenschaft gab es Staatsplanvorgaben. Sie zeigten die bevorzugten Themen, für die besonders viele Mittel zur Verfügung gestellt wurden. Bei den Gesellschaftswissenschaften war es wichtig, dass sie auf dem Marxismus-Leninismus basierten. Hinzu kamen andere Dinge wie erschwerte Reisebedingungen, Verbot von Kontakten mit Westlern und ein relativ schwieriger Zugang zu aktueller Literatur.

Zwei Forscher am Zentralinstitut für Kernforschung Rossendorf.
Legende: Zwei Forscher am Zentralinstitut für Kernforschung Rossendorf: In den Naturwissenschaften waren die Aufnahmebedingungen weniger straff. Imago

Wer waren die Leute, die in Konflikt mit dem System gerieten?

Das war ganz unterschiedlich. Egal, mit wem sie aus der DDR reden – alle werden Ihnen von Repressionsmassnahmen berichten. Theoretisch würden Ihnen das auch Erich Honecker und Stalin erzählen, wenn sie noch leben würden. Das ist so, weil ein System, das so enge Regeln vorgibt, so viele Grenzen und Vorgaben macht, gewissermassen den Widerspruch und die permanenten Konflikte selber schon produziert. Deswegen war ein Leben in der DDR für die meisten eine unentwegte Konfliktgeschichte.

Wie veränderte die Wende die Wissenschaften?

Zwei Prozesse wurden ausgelöst: Zuerst einmal wurden verschiedenen Bereichen ihre bisherige Grundlage entzogen, weil der Marxismus-Leninismus nicht mehr als gültig gelten konnte. Zweitens gab es einen Eingriff in das System von aussen. Man strukturierte die Universitäten neu, um sie ihrer ideologischen Prämissen zu berauben. Das Entscheidende war aber der grossflächige Elitenaustausch, der jedoch erhebliche Unterschiede zeigte. Während bei den Geisteswissenschaften die Zahl der Entlassungen bis zu 90 Prozent betrug, gab es bei der Mathematik, in den Natur- und Agrarwissenschaften oder der Medizin eine relativ hohe Kontinuität. Unterm Strich ist vom DDR-Hochschulsystem aber nicht viel übrig geblieben. Ich würde auch weiterhin sagen: vollkommen zu Recht.

Hatte die Forschung der DDR über die Wende hinaus noch einen Wert?

Die hatte überhaupt keinen Wert mehr. Null. Das war ungerecht, weil pauschale Urteile immer ungerecht sind. Heute ist eine Wissenschaftlergeneration nachgerückt, für die das alles Dinge aus dem Geschichtsbuch sind. Die schauen vorurteilsfrei auf diese alten Sachen. Ich beobachte dennoch, dass die Literatur aus der DDR nicht häufig zitiert wird. Was ja wiederum ein Qualitätsmerkmal sein könnte, wenn diese Vorurteilsfreiheit tatsächlich existiert.

Wie gingen die Wissenschaftler mit dieser Abwertung um?

Die haben sich natürlich organisiert. Sie haben Vereine gegründet und haben sehr viel Forschung mit Mitteln des Arbeits- und Sozialamtes betrieben. Darüber hinaus haben sie eigene Strukturen und Institutionen gebildet, die teilweise sehr erfolgreich waren. Die sind nicht so sang- und klanglos verschwunden. Diesen Ansatz zur Selbstorganisation finde ich auch sympathisch, wenn Leute sagen, «Nur weil ihr jetzt meint, dass alles angeblich Scheisse war, muss das ja nicht heissen, dass es auch so war.»

Studenten im Hörsaal
Legende: Studenten in der DDR: Hier im Jahr 1969 an der Universität in Dresden. Imago

Für Sie persönlich hat sich erst nach 1989 ein Studium ermöglicht…

…darum werden Sie von mir natürlich eine andere Sicht auf die Dinge hören als von einem Professor, dessen Forschung durch diese Revolution einen grossen Teil des alten Wert verloren hat. Diese verschiedenen Lebensläufe – das sind die beiden Wahrheiten, die man sehen und akzeptieren muss. Jede Gesellschaft hat tausend Perspektiven. Ich habe durch die Revolution 1989 alles gewonnen, andere haben alles verloren.

Wie unterscheidet sich die Forschung vor und nach der Wende?

Heute gibt es keine Vorgaben. Aber die Wissenschaft ist jetzt längst nicht so frei, wie die Wissenschaftseliten immer glauben machen wollen. Heute wird viel über Geld geregelt, über Kontakte. Wenn man es sich in Deutschland mit den Leuten von der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder anderen mächtigen Wissenschafts-Förderinstitutionen verscherzt hat, dann kann man auch aufs Sozialamt gehen; da kann man Einstein sein, wie man will. Dennoch bekommt man Leute, die gegen das System hier sind, nicht klein und nicht leise. Das ist ein grosser Unterschied: Jeder kann sagen, was er denkt. Dafür kommt hier keiner ins Gefängnis. Nach der Revolution 1989 ist alles anders geworden. Und es ist alles besser geworden. Aber vieles ist noch nicht gut.

Was fehlt?

Leider wird in der Wissenschaft zu viel herumgeklüngelt, wenige einflussreiche Lehrstuhlinhaber haben Macht und Einfluss wie kleine Potentaten. Ich beobachte, dass man sich vor allem vor jenen in Acht nehmen sollte, die ständig von der Objektivität der Wissenschaft reden. Meist meinen Sie damit nur, ihre eigenen Deutungsansprüche durchsetzen und die finanziellen Mittel nach ihrem Gusto verteilen zu können. Aber ich jammere nicht, ich stelle nur fest, warum längst nicht alles gut ist.

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