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Jugendliche in der Pandemie Die isolierte Jugend: «Ich habe jetzt einen biederen Lebensstil»

Anstatt Rebellion und Abenteuer zuhause isoliert: Jugendliche sind von den Corona-Restriktionen besonders hart betroffen.

Die Coronajugend – es klingt fast wie ein Unwort des Jahres. Am wenigsten haben sich wohl die Jugendlichen selbst dieses Etikett gewünscht. Die Pandemie stiehlt ihnen Jahre der ersten Erfahrungen; keine langen Auslandsreisen, kein Ausgang mit Flirts und ersten Küssen, niemals sturmfrei.

Schlittschuhlaufen auf Asphalt

Auch der Sport ist auf Eis gelegt – oder eben nicht, wie etwa bei Nayra Junco. Die 18-Jährige ist leidenschaftliche Eiskunstläuferin. Jetzt dreht sie ihre Pirouetten meist draussen auf dem Asphalt, um nicht ganz aus der Übung zu kommen. In die Eishalle darf sie nur noch selten, das tägliche Wettkampf-Training bleibt aus.

«Mir fehlt was, das demotiviert mich, auch die Leistungen werden nicht besser, es ist nicht dasselbe auf dem Boden.» Nayra geht es wie den meisten Teenagern: Sie sehnt sich nach Erlebnissen und Abenteuer. Stattdessen läuft ihr Leben plötzlich mit angezogener Handbremse.

So geht es auch Jossi Schütt. Er steckt zuhause fest – seine Eltern sind im Homeoffice, er in seinem Zimmer am Lernen. Im Herbst hat er sein Mathematikstudium angefangen. Dabei war der Plan ursprünglich ein anderer: «Ich wollte ein Zwischenjahr machen, einen Monat in Marseille verbringen, danach hätte ich hier gearbeitet, den Job hatte ich schon. Das ist jetzt alles weggefallen.»

Auch das aufregende Studentenleben bleibt aus – beim 18-Jährigen ist seit November Fernunterricht angesagt.

Zuhause bleiben statt ausbrechen

Weniger frei und weniger wild - ein Luxusproblem? Nein, findet Lucas Maissen vom Schlupfhuus Zürich. Die Jugend sei eigentlich die Zeit, um ausbrechen zu können. «Im Jugendalter sind Körperkontakt und Freizeit besonders wichtig. Die Jugendlichen wollen gerade nicht das machen, was die Erwachsenen fordern», so der Psychologe und Sozialarbeiter. Trotzdem hätten die Jungen die Pandemie mitgetragen.

«Die Jugend ist eigentlich eine Zeit des Ausbrechens»

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Moderatorin am Stehtisch mit Mann
Legende: SRF

Der Psychologe und Sozialpädagoge Lucas Maissen ist für das Schlupfhuus Zürich tätig. Der Verein setzt sich für Jugendliche in Krisensituationen ein. Daniela Lager spricht mit ihm über die Herausforderungen für Jugendliche und darüber, wie das Zusammenleben in der Familie besser klappt.

SRF: Sie sind Psychologe und Sozialarbeiter. Jugendzeit ist ja eigentlich auch die Zeit der Rebellion. Jetzt halten sich – bis auf einige Jugendliche in Zürich – erstaunlich viele an diese Pandemiemassnahmen. Erstaunt Sie das auch?

Lucas Maissen: Ja, ich finde es sehr beeindruckend, wie das die jungen Menschen mitgetragen haben. Gerade wenn man bedenkt, dass das Jugendalter eigentlich eher die Zeit ist, wo sie ausbrechen möchten, Körperkontakt und Freizeit wichtig sind. Gerade nicht das machen, was die Erwachsenen fordern. Vieles fällt jetzt weg und sie müssen vieles tun, was sie sonst nicht machen müssen. Da sollte man auch einmal den Hut ziehen vor den jungen Menschen.

Die Pandemie belastet uns alle. Mit welchen Argumenten kann man die Jungen motivieren, weiter durchzuhalten?

Etwas vom Wichtigsten ist es, anzuerkennen, was sie dazu leisten und zu versuchen, sie zu verstehen. Auch wenn man vielleicht bei einem verlorenen Job nicht gerade Verständnis dafür hat, dass die Tochter es eine Katastrophe findet, dass sie abends nicht mit den Kollegen weggehen kann. Aber ihnen trotzdem zuzuhören und zu versuchen, Verständnis zu entwickeln. Zum Anderen kann die Pandemie auch junge Menschen treffen. Wenn sie beispielsweise einen Unfall hatten und angewiesen sind auf einen Intensivpflegeplatz. Auch für sie ist es wichtig, dass das Gesundheitssystem nicht am Boden liegt.

Jetzt gibt es hier und dort Spannungen zuhause. Haben Sie Tipps für ein gutes Verhältnis zuhause, zur Unterstützung der Eltern?

Es ist eine herausfordernde Geschichte für alle. Ich glaube, eine gute Balance ist wichtig: Es braucht Zeit, in der man sich zurückziehen kann, jeder einzeln, aber auch Zeit, in der man in Kontakt ist. Man sollte schauen, dass man auch bei kleinen Dingen viel Freude miteinander erlebt. Die grossen Dinge fallen weg, aber einmal etwas backen zusammen, einen Film schauen.

Vielleicht auch mal etwas wagen mit dem Risiko, dass die Jugendlichen etwas ganz blöd finden. Aber das gehört auch zum Lebensalter, das muss man nicht auf sich beziehen.

Gibt es Alarmzeichen, bei denen ich merke «jetzt geht es meinem Sohn, meiner Tochter nicht mehr gut»?

Man kann immer davon ausgehen, wenn es eine plötzliche Veränderung im Verhalten gibt. Etwa, dass sie sich zurückziehen, viel mehr Ängste äussern, gewisse Emotionen viel mehr zum Tragen kommen; viel trauriger sind, aggressiv oder kaum mehr schlafen in der Nacht dafür tagsüber. Bei diesen Anzeichen sollte man hellhörig werden, auf die Jugendlichen zugehen und nachfragen.

Mitgetragen haben die Jungen die Pandemie jetzt schon fast ein Jahr. Und für sie sei ein Jahr eine lange Zeit, sagt die Psychologin Ronia Schiftan. «Ein Jahr ist gefüllt mit ganz vielen Erlebnissen, mit Schulwechseln, Ausgangserlebnissen. Wenn das alles fehlt, ist das ziemlich anstrengend. Auch wenn man auf Partnersuche ist, jemanden kennenlernen möchte, das ist extrem schwierig von zuhause aus.» Dabei gehöre auch das Verliebtsein zur Identitätsfindung dazu.

«Ich habe jetzt einen biederen Lebensstil»

Stattdessen sitzen Nayra und Jossi zuhause fest. Um dem Streit mit dem Bruder aus dem Weg zu gehen, schliesst Nayra sich meistens ins Zimmer ein: «Ich bin am Laptop, mit der Familie hab ich nicht mehr Kontakt als sonst. Man kann nicht immer nur im Zimmer sein. Nach dem ersten Lockdown merkte ich, jetzt brauche ich unbedingt wieder die Schule und Kolleginnen.» Sie und ihre Freundin sind sich einig: Die Nähe zu den Gleichaltrigen fehlt. Stattdessen ist eine Leere geblieben.

Und Student Jossi Schütt fragt sich trocken: «Will ich sie später noch machen, die wilden Sachen? Nachdem ich mich 1.5 Jahre einem biederen Lebensstil angepasst habe.»

Was tun, wenn nichts mehr geht?

Den Jugendlichen bleibt nichts anderes übrig, als weiter durchzuhalten. Wie können die Eltern dabei helfen? Besonders wichtig sei es, zuhause eine Balance zu schaffen zwischen Rückzugzeit und Momenten mit der Familie, meint Lucas Maissen.

Es sei wichtig, sich zusammen kleine Freuden zu gönnen. Die Eltern können dabei ruhig etwas ausprobieren, zum Beispiel einen Koch- oder Filmabend: «Man kann auch mal etwas wagen. Mit dem Risiko, dass die Jugendlichen etwas ganz blöd finden. Das gehört schliesslich auch zum Lebensalter, das darf man nicht auf sich beziehen.»

Und wenn die Spannungen zunehmen? «Dann hilft es, wenn sich die Jugendlichen möglichst auf das konzentrieren, was sie gerne tun – und auf das, was noch funktioniert.»

Helfen können auch Aussenstehende; Familien- und Jugendberatungen. Pro Juventute hat zum Beispiel eigens ein Chat-Angebot von Jugendlichen für Jugendliche geschaffen. Hier schreiben Teenager mit Gleichaltrigen, die selbst Krisen durchlebt haben. Sie beraten etwa zu Leistungsdruck, Liebeskummer, Trennung der Eltern aber auch zu den Schwierigkeiten, während Corona neue Freunde zu finden. Der Chat bleibt anonym und bietet so eine sichere Anlaufstelle, um über Unangenehmes zu reden, bevor man sich traut, die Themen in der Familie oder bei Freunden anzusprechen.

Flucht nach Draussen

Auch Anne Terrier versucht die Jugendlichen dort zu erreichen, wo es darauf ankommt: Für die Mobile Jugendarbeit ist sie abends auf den Strassen von Zürich unterwegs. Sie hört den Jugendlichen zu, versucht bei Konflikten zu vermitteln. Denn statt bei Partys, Konzerten oder in Cafés treffen sich einige Teenager jetzt draussen in der Kälte als Ausgleich zum Corona-Alltag.

Für Anne Terrier verständlich: «Uns Erwachsenen fällt es leichter, wir haben die Entwicklungsaufgaben schon gemacht. Sie sind mittendrin, sie sollten sich nun vom Elternhaus lösen. Man sagt ihnen aber: Bleib zuhause. Das ist schwierig, wenn man zuhause bleiben muss.»

Trotzdem halten sich die meisten Jugendlichen an die Regeln. Sie haben die Pandemie bis heute mit ertragen und mitgetragen. Und dafür ihre Abenteuer und Freiheiten auf Unbestimmt pausiert. Laut Lucas Maissen verdient das Anerkennung – es sei auch einmal Zeit, vor den Jugendlichen den Hut zu ziehen.

Puls, 08.02.2021, 21:05 Uhr

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