Es ist Winter in der Region Charkiw im Nordosten der Ukraine. Das Gebiet wurde von der russischen Armee eine Zeit lang besetzt. Die Russen sind nicht mehr da. Aber ihre Minen und Überreste der Militärtechnik am Rande vieler Landstrassen sind geblieben.
Zwei Tage lang sind Kateryna Shutalova und ihr Team in der Stadt Isjum im Einsatz. Die 39-Jährige hat es sich vor neun Jahren zu Aufgabe gemacht, sich um die vom Konflikt in der Ukraine gezeichneten Kinder zu kümmern.
Isjum liegt etwa 120 Kilometer südlich von Charkiw. Rund 40’000 Menschen lebten dort vor dem Krieg. Mehrere hundert Zivilisten wurden getötet – darunter auch Kinder. Heute lebt nur die Hälfte der Anwohner in der Stadt. Die meisten Leute sind auf Suppenküchen angewiesen. Kein Strom, keine Heizung, keine Infrastruktur und keine Arbeit.
In einem zerschossenen Haus mit den Spuren von Kugeln und Splittern an den Wänden veranstaltet Shutalova heute ein Kinderfest. Der Strom kommt in Isjum nur von einem Generator. Es ist kalt. Kateryna und ihre Kolleginnen spielen die lustigen Hirsche des heiligen Nikolaus, um die Kinder zu amüsieren. Nicht alle machen sofort mit.
Das Mädchen Dascha bleibt unbeteiligt. Egal, wie aktiv die anderen spielen, zieht es nicht mal ihre Hände aus den Taschen. Selbst um ihren Vornamen zu nennen, braucht Dascha Unterstützung von Shutalova. Das Kind ist kriegstraumatisiert.
Die Kleinen haben ihre Kindheit nur einmal.
«Es ist ein wichtiger Hinweis auf ein Trauma, wenn ein Kind offensichtlich den Kontakt zu seinem Körper verliert. Jedes normale Kind spürt seinen Körper. Es ist spontan, beweglich und aktiv. Aber die Kinder hier sind oft wie eingefroren.»
Selbst als eine Kollegin von Shutalova am Kinderfest mit einer Seifenblasen-Maschine für einen zauberhaften Moment sorgt, bleibt Dascha in sich gekehrt.
«Sobald wir solche Kinder bemerken, bemüht sich das ganze Team, sie vorsichtig zu aktivieren und in das gemeinsame Spielen bestmöglich zu integrieren», sagt die Psychologin.
Damit sie die Seifenblasen besser sieht, wird Dascha gehoben. Und dann: ein kleiner Erfolgsmoment für die Psychologin und ihr Team. Das Mädchen bewegt tatsächlich die Hände.
Solche positiven Erlebnisse seien essenziell, sie würden die Kinder ihr Leben lang stärken, ist Shutalova überzeugt. «Die Kleinen haben ihre Kindheit nur einmal.»
Jahrelanger Einsatz im Risikogebiet
Seit 2014 reist Kateryna Shutalova mit ihrem Team in das Frontgebiet im Donbass und therapiert ehrenamtlich kriegstraumatisierte Kinder, veranstaltet spezielle therapeutische Kinderfeste, um die Kleinen aus dem blutigen Kriegsalltag irgendwie herauszureissen und ihnen Erlebnisse zu schenken, in denen sie auch wirklich Kinder sein können.
Jedes Wochenende besucht die Psychologin aus Charkiw dutzende Schulen, Kitas und auch einzelne Familien an der Front. Jedes Jahr therapiert sie mehr als 3000 Kinder. Fahrzeug, Brennstoff und die Ausrüstung werden durch Spenden finanziert, die Behandlung ist kostenlos.
Der spielerische und fröhliche Therapieansatz hat laut Kateryna vor allem ein Ziel: «Die Kinder sollen sich bewegen und ihre Körperteile wieder spüren. Dadurch bekommen sie automatisch ein Gefühl von Sicherheit und werden innerlich entspannter.» Ihr niederschwelliger Ansatz stösst auf grosses Interesse. Denn Fachärzte und Therapeuten fehlen und eine private Behandlung wäre für die Leute in der Ostukraine unbezahlbar.
Bei ihren Einsätzen riskiert die Familienmutter Kateryna immer wieder ihr eigenes Leben. Dutzende Male ist sie mit ihrem Team unter Beschuss geraten und musste sich in Kellern verstecken. Trotzdem setzt sie ihre Mission fort: «Seit der ersten Therapie an der Front lässt mich das Schicksal dieser Kinder einfach nicht mehr los. Diese Kinder und diese Mission machen mein Leben sinnvoll.»
Kriegsrealitäten machen Fortschritte zunichte
Am heutigen Kinderfest in Isjum kämpfen die Eltern immer wieder mit den Tränen. Sie haben ihre Kleinen seit Kriegsbeginn noch nie so glücklich gesehen.
Während die Kinder spielen, werden heimlich Geschenke für sie hineingebracht. Jedes Kind hat vor wenigen Monaten an den heiligen Nikolaus einen Brief geschrieben – mit einem Geschenkwunsch. Von Spenden wurde für jedes einzelne Kind das Gewünschte gekauft und nun vom Nikolaus persönlich übergeben.
Nach dem zweitägigen Einsatz zieht das Team weiter. Ein paar Wochen später werden sieben Jugendliche in Isjum von einer Sprengmine verletzt. Sie sollen damit gespielt haben. Nur wenige Raketen und Minen wurden bisher entfernt.
Die brutale Kriegsrealität macht die positiven Folgen einer psychologischen Hilfe oft zunichte. Damit zu leben, fällt der Psychologin Kateryna immer schwerer. Wie alle ukrainischen freiwilligen Helferinnen ist auch sie erschöpft. Zum Abschalten fährt sie nach Deutschland. Dorthin hat die Familienmutter ihre Kinder evakuiert.
Das ganze Land ist schwer traumatisiert.
Kateryna will ihre Mission trotz Lebensgefahr in der Ukraine aber unbedingt fortsetzen. Bereits im März wird sie wieder Kitas, Kinderheime und Flüchtlingsheime im ganzen Land besuchen. Besonders grosse Angst hat sie aber vor dem Ende des Krieges – wenn die stark traumatisierten Soldaten zurückkehren. Für sie will Kateryna psychologische Zentren schaffen.
Es ist noch sehr viel Arbeit für sie in der Ukraine: «Das ganze Land ist schwer traumatisiert», sagt Kateryna. Solange sie könne, wolle sie helfen.