Die Geschichten über Wikinger sind wie gemacht für Netflix und Kopfkino: Drachenboote, Kriegsgetöse, heidnische Götter im Dauer-Kampfeinsatz.
Nur passen diese Bilder selten zu dem, was sich historisch belegen lässt.
Viele Vorstellungen, die heute selbstverständlich wirken, haben sich nämlich erst im Laufe späterer Jahrhunderte zusammengesetzt – in mittelalterlichen Texten, in der Romantik und in der Popkultur. Genau das zeigt eine neue Studie der Universität Münster.
Cocktail aus Erinnerungen
«Aus der Wikingerzeit selbst sind kaum schriftliche Zeugnisse erhalten», lautet der Befund der Forschenden. Das gesicherte historische Material besteht fast nur aus kurzen Runeninschriften, die Namen, Besitz oder einzelne Ereignisse festhalten und nur kleine Einblicke in den Alltag oder das Weltbild der Menschen geben.
Für alle weiteren Vorstellungen halten seit jeher deutlich spätere Überlieferungen her. «Wir stützen uns im Wesentlichen auf Berichte christlicher Gelehrter des Hochmittelalters», so Studienautor und Skandinavistik-Forscher Roland Scheel.
Gemeint sind Texte aus dem 12. und 13. Jahrhundert – also gut ein bis zwei Generationen nach dem Ende der Wikingerzeit. Diese Quellen mischen Beobachtungen, literarische Schnipsel und die Moral ihrer Zeit zu einem Cocktail, der mit der historischen Wirklichkeit der Wikinger nur teilweise etwas zu tun hat.
Das bedeutet aber nicht, dass die Wikinger Fantasiefiguren wären. Die Archäologie zeigt Händlernetzwerke, Siedlungen, weit gereiste Menschen, technische Innovationen im Schiffbau und eine soziale Ordnung, die weder «freiheitsliebende Naturburschen» noch «blutrünstige Barbaren» hervorgebracht hat – sondern vieles dazwischen.
Vernetzt und mobil
Doch es gibt auch Aspekte, die sich heute relativ klar belegen lassen. Etwa, dass «Wikinger» ursprünglich eher eine Tätigkeit meinte als eine ethnische Kategorie – der Begriff víkingr bezeichnete jemanden, der auf Fahrt ging – und dass skandinavische Gruppen gut vernetzt waren: Münzen, Glas und Metall aus dem Nahen Osten oder Zentralasien belegen ihre Einbindung in überregionale Handelsräume. Ihre Schiffe gelten als technische Masterpieces – robust für Küsten und offene See.
Der Alltag dürfte überwiegend aus Landwirtschaft, Handwerk und dem üblichen lokalen Tauschgeschäft bestanden haben. Kriegsfahrten gehörten dazu, waren aber nicht das Programm in jeder Saison. Auch die sozialen Abstufungen sind gut belegbar: Bauern, Gefolgsleute, Dienstabhängige und Sklaven prägten das Gefüge.
Übrigens zeigen Analysen aus anderen Studien, dass ihr Speiseplan eher unspektakulär war: viel Getreide, Fisch und Milchprodukte – nicht die Dauer-Fleischdiät aus Serienfantasien.
Und die Hörnerhelme? Nach wie vor ein Mythos – archäologische Belege fehlen. Sicher ist dagegen ihre Mobilität: Island, Grönland, Britannien oder die Kiewer Rus – überall finden sich Spuren skandinavischer Präsenz.
Damit schliesst sich der Kreis: Vieles von dem, was heute unser Kopfkino füttert – von «Wickie» bis zum Streaming-Epos – hat wenig mit zeitnahen Quellen zu tun.
Zieht man die später aufgetragenen Schichten ab, bleibt ein nüchterneres, aber durchaus spannendes Bild: eines von Bewegung, Austausch und regionaler Vielfalt. Den Rest haben wir ergänzt. Manchmal präzise, manchmal ziemlich kreativ.