In eine klassische Gelehrtenstube gehören: hohe Regale, vollgestopft mit Büchern, ein alter Tisch und eine Leselampe. Das Büro von Frédéric Kaplan, seit einem Jahr Professor für Digital Humanities an der ETH Lausanne, sieht ganz anders aus: modern-funktionell, das Büchergestell klein – und nicht sehr voll.
Dafür steht in einer Ecke des Raumes eine seltsame Vitrine. Sie beherbergt einen alten Folianten, die geöffnete Doppelseite ist mit Text und prächtigen Illustrationen gefüllt. Rechts vom Buch schweben in der Luft eine Europakarte, die Jahreszahl 1237 und ein kurzer Text.
Animierte Realität
«Die Vitrine mischt Realität mit virtuellen Elementen – also das alte Manuskript mit Texten und Karten, die computergesteuert projiziert werden», erklärt Frédéric Kaplan. Er hat die Vitrine für eine Ausstellung in der Fondation Bodmer entwickelt, einem Mix aus Museum und Bibliothek in Genf. Sie erklärt den Besuchern die Hintergründe des venezianischen Manuskriptes so, wie es ein herkömmlicher Schaukasten nicht könnte: Dank computergesteuerter 3-D-Projektionen taucht man ein in eine Art Animationsfilm mit dem Folianten als Hauptdarsteller.
Dass gerade ein Werk aus Venedig in der Vitrine steht, ist kein Zufall. «Wir haben mit dem Staatsarchiv Venedig ein Projekt gestartet, um alle Dokumente des Archivs aus fast 1000 Jahren zu digitalisieren», sagt Kaplan. Aber das Projekt «Zeitmaschine Venedig» soll mehr: Neuartige Software wird die Inhalte selbst erfassen und Historikern über eine intelligente Suche zugänglich machen.
Ganz neue Fragestellungen möglich
Die Wissenschaftler könnten damit in Zukunft Fragen stellen, die sonst nur mit langwieriger Recherche beantwortbar seien, wenn überhaupt, sagt Kaplan. Man kann sich etwa die Abfolge der Brückenbauten in der Lagunenstadt analysieren lassen, um die Entwicklung der Bautechnik zu verfolgen. Oder die Software erstellt Lebensläufe aller Personen, die im Archiv auftauchen, inklusive ihrer Beziehungsnetze.
Die digitalen Geisteswissenschaften wollen also einen grossen Bogen spannen, von der Erschliessung riesiger Datenmengen, über ihre Auswertung bis zur Präsentation auch für ein Laienpublikum. Beim Venedig-Projekt schwebt Frédéric Kaplan so etwas wie eine historische Google-Map vor, eine Zeitmaschine, die zeigen kann, wie die Stadt 1267 ausgesehen hat, 1513 oder 1647.
Datenbanken ohne Erkenntnisse?
Das alles klingt vielversprechend. Es fehlt trotzdem nicht an Kritikern. Manche Gelehrte werfen den Digital Humanities vor, sie produzierten zwar grosse Datenbanken, aber die Erkenntnisse daraus seien allzu oft banal. Zudem gibt es Befürchtungen, dass die junge Wissenschaft den gestandenen Disziplinen knappes Forschungsgeld streitig macht.
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Frédéric Kaplan gibt sich vermittelnd. Man sei erst am Anfang. Und die digitalen wollten die klassischen Geistewissenschaften nicht angreifen, sondern ergänzen. Dieses Angebot werde geschätzt: «Ich erhalte oft Anfragen für eine Zusammenarbeit.»
Viel Begeisterung also über die digitalen Geisteswissenschaften - aber noch ist vieles eher Versprechen als Realität. Die Arbeit in den staubigen Archiven Venedigs und im Labor von Frédéric Kaplan hat erst begonnen. Sie werden noch lange dauern.