Immer wieder Montags steht die Kundschaft dieser Tage Schlange – bis vor die Glastür des roten Backsteinbaus im Essener Stadtteil Katernberg. Der Parkplatz draussen ist dann überfüllt; drinnen stapeln sich Boxen, aus denen das Gurren von Brieftauben tönt, die auf Herrn oder Frau Doktor warten. Am Wochenende war schliesslich Wettkampf, und die Züchter sorgen sich um ihre Zöglinge. Warum war Nummer 04591-07-117 diesmal als letzte Taube im heimischen Schlag? Warum frisst sie nicht? Wieso ist der Kot so wässrig?
Und so nehmen Elisabeth Peus, Ludger Kamphausen und ihre Helfer Abstriche aus Kröpfen und Därmen, suchen mit dem Endoskop nach Schleim im Rachen und schienen Flügel von Jungtauben, die im Rennbetrieb verletzt wurden. Oder die von hungrigen Raubvögeln angegriffen wurden. «Ja», seufzt Tierärztin Peus, «der Habicht ist immer ein Thema.»
Hilfsmittel für Leistung in der Luft
Aus Habicht-Sicht nur zu verständlich: Rund und fett gehen Brieftauben ins Rennen, damit die Energie ausreicht. Ausgewachsene Tiere legen auf dem Weg vom «Auflassplatz» zu ihrem heimatlichen Schlag bis zu 600 Kilometer zurück – mit Geschwindigkeiten von mehr als 100 Stundenkilometern und häufig ohne Zwischenstopp. «Das sind eindeutig Hochleistungssportler», sagt Peus – mit Ansprüchen an die Fitness, denen die Privat-Tierklinik mit ihrem Online-Shop für Tiergesundheit Rechnung trägt.
Zum Beispiel mit dem Schleimlöser Bronchoson (44,- Euro/Liter), der die Atemwege der Langstreckler frei halten soll. Mit «Topform Spezial – Heilkraft der Kräuter» (25,-), einem Extrakt für die körpereigenen Abwehrkräfte, oder dem Eisenpräparat Hämoglovit (19,50) für Zeiten «besonderer körperlicher Belastung». Beziffern kann Peus dieses Geschäft nicht, doch der Anteil der Gesundheitsnahrung am Umsatz sei «durchaus noch bedeutend».
Bierhefe und Erdnüsse für mehr Speck
«Ja, das ist eine richtige Branche», sagt Züchter Karl Waschelitz aus Bochum, der ein paar Autominuten von der Taubenklinik entfernt wohnt. Verletzte oder kranke Tauben bringt er seit Jahren vertrauensvoll dorthin – doch Medizin und Mittelchen bekommen seine Tiere nur jene, die der Arzt verschreibt. Ansonsten schwört der 74-Jährige auf Hausmittel: «Meine Tauben fliegen auf Naturbasis.»
Zum Beispiel mit Bierhefe als Lieferant von B-Vitaminen. Oder mit fetthaltigen Erdnüssen, mit denen sich Speckpolster zwischen zwei Wettflügen wieder aufbauen lassen. «Montags füttert man anders als am Freitag», sagt er – damit die Taube beim Start schön «rund» ist, wie Züchter sagen. «Sie fühlt sich dann in der Hand wie ein Ballon an», erklärt Waschelitz, dessen Tiere schon viele Siege einflogen, «nicht zu schwer, nicht zu leicht. Und ganz locker, nicht verspannt.»
Bakterien, Würmer und andere Erreger
Für das Team der Essener Klinik ist die Tauben-Gesundheit auch eine logistische Herausforderung – die Sorgen der Schlag-Besitzer halten das Team auf Trab. Im Labor werden Blutproben ausgewertet und Abstriche aus Kropf und Darm auf Bakterienbefall geprüft. Falls nötig, kommen Ultraschall oder der Röntgenapparat zum Einsatz und manche Patienten landen zur weiteren Behandlung auf der Station – oder im Operationsraum.
Zu den Gefahren im Taubenschlag gehören nicht nur «Schnupfen»-Erreger wie Chlamydien, die sich unerkannt verbreiten können. Sondern auch allerlei Darmwürmer oder die Trichomonaden: Parasiten, die den Kropf befallen, sich von dort im Körper ausbreiten und die Leber schädigen können.
Für den berüchtigten Paramyxo-Erreger, der einst tausende Tauben hinraffte, wurde seinerzeit sogar eine Pflichtimpfung eingeführt. «Da geht’s schon rund», erzählt Tierärztin Peus, «es kommt vor, dass wir in der Klinik 600 Tauben an einem Tag impfen, neben allen anderen Arbeiten.»
Rätselhafte Symptome unter Jungtauben
Heute ist die Seuche deshalb seltener – auch in der Schweiz, wie Züchter Hansueli Tschannen aus Uettlingen nahe Bern erzählt. Dafür gibt es ein anderes Problem, das den Haltern zu schaffen macht: die «Jungtaubenkrankheit», die oft nach den ersten Wettflügen auftritt und aus fidelen Tieren schwache Vögel mit wenig Appetit und Fluglust macht. Ursache? Unbekannt, sagt Tschannen.
«Nun ja», erklärt Expertin Peus, «es ist ein variables Krankheitsbild, das für Züchter oft schwer einzuschätzen ist.» Doch die Ursachen seien mittlerweile besser erforscht: Nicht nur ein Erreger ist verantwortlich, sondern eine Immunschwäche durch Viren, Bakterien und Parasiten – mitsamt dem Stress, den junge Vögel auf ihrer ersten Wettkampf-Reise, bei Enge oder zu grosser Hitze im Taubenschlag erleiden.
Cortison und andere unlautere Mittel
Zumal manche Züchter für den sportlichen Erfolg weiter gehen als Tierschützern lieb ist. Weil während des jährlichen Kleidwechsels, der Mauser, auch die zehn aerodynamisch wichtigen Hauptfedern der Schwingen nach und nach ersetzt werden, «verschiebt» ein Teil der Züchter diesen Vorgang mit Hilfe von Licht auf die Zeit nach den Wettflügen. Zum Beispiel, indem der Schlag im Frühjahr schon gegen 18 Uhr verdunkelt wird, um den Tieren vorzugaukeln, es sei noch Winter.
Früher setzten ehrgeizige Taubenhalter dazu sogar Cortison ein, das heute auf der Dopingliste der Brieftaubenverbände steht – zusammen mit Hormonen, anabolen Steroiden und anderen Substanzen. Neben Verdachtsfällen, so Tierärztin Peus, bekommt ein spezialisiertes Labor auch Stichproben von unbescholtenen Züchtern, die beim Überraschungsbesuch der Kontrolleure zuweilen grosse Augen machen.
Liebevolle Zuwendung als Erfolgsrezept
Erfahrene Brieftaubensportler kennen schliesslich auch legale Wege, die Flugleistung zu steigern. Neben tierärztlicher Versorgung schwört der Spitzenzüchter Franz-Wilhelm Gonschior im deutschen Wenden auf den Wohlfühl-Faktor. Eine Taube solle einen Partner haben, mit dem sie sich gut versteht – und jedes Pärchen einen Bereich, «wo sie allein die Chefs sind».
Überhaupt sieht Gonschior die Brieftauben als eigenständige Persönlichkeiten. Jede Einzelne erkennt er auch im Dunkeln; nur dadurch, dass er sie in die Hände nimmt. «Die Tiere merken auch sofort, ob ich gute Laune habe oder nicht», erzählt der vielfache Wettkampfsieger, der seine Schützlinge seit Jahren in die Taubenklinik bringt, «und sie bringen nur dann eine Spitzenleistung, wenn es ihnen richtig gut geht. Das ist wie bei den Menschen.»