Hermann Stieve war einer der führenden Anatomen seiner Zeit. Sein «Material» – wie es im damaligen Anatomen-Jargon hiess – bezog er direkt von den Hinrichtungsstätten des deutschen Nationalsozialismus, zum Beispiel aus Berlin-Plötzensee. Die Frauen auf seinem Seziertisch waren oft wegen geringster Delikte zum Tod verurteilt worden, weil sie Kleider oder Essen gestohlen hatten. Oder weil sie mit einem Bagatellvergehen «die Wehrkraft des deutschen Volkes» gefährdet hatten.
Sezieren am «lebensfrischen» Körper
Dort warteten Hermann Stieve und seine Leute bereits ungeduldig auf das frische «Material». Denn die Körper von Hingerichteten waren begehrt, sagt Sabine Hildebrandt, Expertin für Anatomie im Nationalsozialismus. Es sei ihr kein einziges anatomisches Institut aus der Zeit des Nationalsozialismus bekannt, das Leichen-Lieferungen von Hinrichtungsstätten abgelehnt hätte «Es handelte sich bei den Hingerichteten in der Regel um jüngere Menschen. Die Sezierarbeiten konnten geplant werden, weil die Hinrichtungsdaten bekannt waren und die Körper «lebensfrisch» beziehungsweise «lebenswarm» waren.
Besonders wenn empfindliches Gewebe untersucht wurde – etwa die Nebenniere – war es für die Anatomen wichtig, die Körper bereits kurz nach dem Tod zu untersuchen». Das ging sogar so weit, dass Hermann Stieve auch auf den Zeitpunkt von Hinrichtungen Einfluss genommen hat. Die Leichen sollten nicht zu spät am Abend angeliefert werden, damit sie noch seziert werden konnten, bevor die letzte Strassenbahn oder U-Bahn für seine Angestellten abfuhr.
Im Fokus: Stress vor der Hinrichtung
Obwohl er selber kein engagierter Nationalsozialist war, kam Stieve die Machtergreifung der Nazis beruflich sehr gelegen. Ab 1933 wurden in Deutschland erstmals auch Frauen hingerichtet – seine bevorzugten Untersuchungsobjekte. Hermann Stieves Interesse galt der Wirkung von Stress auf die Reproduktionsorgane und den Menstruationszyklus. Zwangsarbeit, Gefängnisaufenthalte und die Angst vor dem angekündigten Tod zeichneten die Frauen. Dieser Stress führte zu unregelmässigen und ausbleibenden Blutungen, genauso wie der akute Stress vor der Hinrichtung so genannte Schreckblutungen zur Folge hatte. Hermann Stieve ermunterte das Gefängnispersonal jeweils, sich Notizen zu machen über den Zustand seines künftigen «Materials» – über den Menstruationszyklus der Frauen und deren Verfassung in der Todeszelle.
Wer auf dem Tisch lag, war egal
Wer da vor ihnen auf dem Seziertisch lag, interessierte Hermann Stieve und seine Angestellten am anatomischen Institut der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität nicht. Das sei in der Geschichte der Anatomie nicht ungewöhnlich, sagt Sabine Hildebrandt: «Es war unter den Anatomen nicht üblich nachzufragen. Das mag traditionell ein Selbstschutz gewesen sein, der aber mit Sicherheit in Zeiten einer kriminellen Regierung nicht mehr vertretbar war. Man muss sich schon fragen, warum sich die Kollegen keine Gedanken darüber gemacht haben, woher alle diese vielen Leichen kamen».
Nummer 105: Elfriede Scholz aus Dresden. Die 40-jährige Näherin gehörte zu jenen hingerichteten Frauen, über die vermerkt war, sie hätten «zu viel gesprochen». Mit andern Worten: Elfriede Scholz hatte sich kritisch zur Politik geäussert. Sie wurde von Nachbarn denunziert, weil sie gesagt habe, Hitler sei für den Tod von deutschen Soldaten verantwortlich und sie würde ihn bereitwillig erschiessen. Sie wurde vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt und am 16. Dezember 1943 hingerichtet. Elfriede Scholz war die Schwester des Schriftstellers und Kriegskritikers Erich Maria Remarque.
Dr. Stieves Liste
Hermann Stieve erstellte 1946 im Auftrag der Berliner Behörden eine Liste mit den Nummern von 174 Frauen und acht Männern, die in NS-Hinrichtungsstätten den Tod fanden und anschliessend in seinem Institut seziert wurden. Die Liste sei mit Sicherheit nicht vollständig, sagt Sabine Hildebrandt von der University of Michigan in Ann Arbor: «Wir wissen aus Veröffentlichungen, dass er selber mindestens 450 Körper von Hingerichteten seziert hat. Im Ganzen hat die Anatomie an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität aus den Hinrichtungsstätten Berlin-Plötzensee und Brandenburg-Görden wohl über 4‘000 Leichen bezogen.»
Alle Opfer auf Hermann Stieves Liste wurden nach der Sektion kremiert. Die Asche der meisten bleibt unauffindbar. Keinem der letzten Wünsche nach Rückführung der sterblichen Überreste wurde entsprochen. Viele der Nachkommen wissen bis heute nichts über den Verbleib ihrer Angehörigen. Ein grosser Teil der Asche der in Plötzensee Hingerichteten ist vermutlich auf dem Friedhof Alt-Glienicke vergraben worden. Hier wurde 2005 ein wenig Erde eingesammelt und ins polnische Zbiersk gebracht. Symbolisch wurde damit – 63 Jahre nach ihrem Tod – dem Wunsch der jungen polnischen Zwangsarbeiterin Bronislawa Czubakowska entsprochen, bei ihrer Mutter beerdigt zu werden.
Hermann Stieve wurde nach dem Krieg von allen Besatzungsmächten verhört und kehrte dann in Amt und Würden in sein Institut an der Berliner Charité zurück. Denn er habe nach dem juristischen Gesetz nichts Illegales getan.