SRF «Wissenschaftsmagazin»: Herr Lalive D’Epinay, Sie definieren Sucht als Gehirnkrankheit. Warum?
Arnaud Lalive d’Epinay: Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Drogen das Gehirn schon beim ersten Konsum verändern. Mit fortgesetztem Drogengebrauch greifen die Veränderungen auf das ganze Gehirn über. Diese Generalisierung führt schliesslich zu jenem Verhalten, das wir Sucht oder Abhängigkeit nennen.
Sie wollten wissen, was im Gehirn passiert, wenn es zum ersten Mal mit Drogen in Kontakt kommt. Sie haben den Effekt von Kokain und Metamphetaminen untersucht und festgestellt: Das Gehirn wirft beim Erstkonsum einen Schutzmechanismus an. Wie funktioniert dieser Mechanismus?
Immer wenn Suchtmittel unser Gehirn erreichen, kurbeln sie das Dopaminsystem an. Der Botenstoff Dopamin spielt unter anderem eine wichtige Rolle beim Lernen und bei der Verknüpfung von positiven Gefühlen mit Handlungen, die diese hervorrufen. Wir konnten nun zeigen, dass das Gehirn beim Erstkonsum von Kokain und Metamphetaminen nicht nur Dopamin ausschüttet. Es aktiviert auch einen Gegenspieler, nämlich den Botenstoff GABA. GABA drosselt die Wirkung von Dopamin. Das Gehirn schützt sich also – zumindest bei erstmaligem Konsum – aktiv gegen die Drogen.
Gibt es eine Erklärung dafür, weshalb das Gehirn sich gegen Drogen schützt? Gibt es beispielsweise einen evolutionären Vorteil?
Solche Schutzmechanismen beobachtet man ja nicht nur im Gehirn, sondern im ganzen Körper. Wenn unser Körper verletzt ist oder wenn Genmutationen in Zellen entstehen, dann versucht er als erstes, diese Schäden zu reparieren. Wir denken, dass das Gehirn angesichts von Suchtmitteln etwas ganz Ähnliches versucht. Drogen erhöhen den Dopaminspiegel so extrem, dass das Gehirn nicht mehr normal funktionieren kann. Diese Störung nimmt es sehr negativ wahr. Es will sein Gleichgewicht wieder herstellen, indem es eben jene Schutzmechanismus in Gang setzt, den wir entdeckt haben. Wir nehmen an, dass dieser Abwehrmechanismus bei allen Drogen aktiv wird, denn alle Drogen verändern den Dopaminhaushalt. Die Abwehr scheint jedoch bei wiederholtem Drogenkonsum nachzulassen, so dass eine Abhängigkeit entstehen kann. Wie diese Entwicklung abläuft, ist noch nicht erforscht.
Nun sind wir ja nicht alle in gleichem Masse suchtgefährdet. Viele Menschen konsumieren Drogen zum Beispiel zur Entspannung, ohne je süchtig zu werden. Lässt sich diese Beobachtung mit dem von Ihnen entdeckten neuronalen Schutzmechanismus erklären?
Tatsächlich werden lediglich etwa 20 Prozent der Personen abhängig, die gelegentlich Suchtmittel zur Entspannung konsumieren. Hier spielen wohl die Gene eine Rolle und das Potenzial einer Droge, unser Gehirn zu verändern und zur Sucht zu führen. Und ja, es könnte sein, dass wir uns auch darin unterscheiden, in welchem Grad unser Gehirn sich gegen die Wirkung von Drogen zur Wehr setzen kann. Aber das ist im Moment lediglich eine Hypothese.
Könnten Ihre Erkenntnisse Grundlage sein für neue Ansätze in der Suchttherapie?
Wir haben nur beobachtet, was im Gehirn beim erstmaligen Drogenkonsum passiert. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass dieser Mechanismus für die Entwicklung von Wirkstoffen gegen Suchtkrankheiten in Zukunft genutzt wird. Man könnte gezielt das GABA-System anzukurbeln, den Gegenspieler des Dopamins also. Ähnliches wurde im Bereich der Alkoholabhängigkeit bereits versucht. Doch das ist nicht so einfach. Das GABA-System ist im ganzen Gehirn aktiv. Wenn man in den GABA-Haushalt eingreift, greift man also ins ganze Gehirn ein. Entsprechend gross ist das Risiko unerwünschter Nebenwirkungen. Wir möchten nun den Wirkungsort des GABA für diesen Schutzmechanismus genauer einkreisen und verstehen, was dort genau passiert. Gelänge es, ein entsprechendes Medikament direkt in diese Hirnregion zu lenken, wäre eine spezifische Suchttherapie möglich. Doch bis dahin wird wohl noch viel Zeit vergehen.