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Polizisten in voller Montur gruppieren sich auf offener, unbefahrener Strasse. In einigen Metern Entfernung laufen Demonstranten umher.
Legende: Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstranten: In liberianischen Monrovia starb am 7. November 2011 mindestens eine Person. Lässt sich das in Zukunft verhindern? Reuters

Mensch Ein Algorithmus für Gewalt-Vorhersagen

Immer mehr Forscher beschäftigen sich mit Gewaltprognosen. Interessant sind sie für Geheimdienste, aber auch für Organisationen, die sich mehr Sicherheit für Bewohner konfliktreicher Länder versprechen. US-Forscher haben eine solche wissenschaftliche Kristallkugel für lokale Konflikte vorgestellt.

Der Politologe Robert Blair möchte die Entstehung von Gewalt im ehemaligen Bürgerkriegsland Liberia vorhersagen können. Er und sein Team haben ein Computerprogramm entwickelt, das in 250 liberianischen Dörfern Gewaltausbrüche prognostizieren soll. Dazu sammelten die Forscher in 250 Dörfern Daten: Sie registrierten Morde, Vergewaltigungen, Proteste von ethnischen Minderheiten, befragten Bewohner nach Problemen, Macht- und Lebensverhältnissen. Ihr Ansatz basiert auf Computerprogrammen, die eigentlich zur Vorhersage ganz anderer Phänomene entwickelt worden waren – Börsenkurse zum Beispiel.

Im Jahr 2008 errechneten sie eine Vorhersage für das Jahr 2010. Zwei Jahre später verglichen Blair und sein Team ihre Ergebnisse mit den tatsächlichen Geschehnissen in den liberianischen Dörfern.

Mit den neuen Angaben verbesserten die Forscher ihre Programme und erstellten erneut Prognosen – diesmal für das Jahr 2012. Das Ergebnis: Die beste Frühwarnsoftware sagte etwa 80 Prozent der gewalttätigen Ereignisse voraus, darunter Zusammenstösse unter ethnischen Gruppen.

Mit den neuen Angaben verbesserten die Forscher ihre Programme und erstellten erneut Prognosen – diesmal für das Jahr 2012. Das Ergebnis: Die beste Frühwarnsoftware sagte etwa 80 Prozent der gewalttätigen Ereignisse voraus, darunter Zusammenstösse unter ethnischen Gruppen.

Ergebnisse stellen Lehrmeinung infrage

Welche Risikofaktoren laut den Vorhersage-Programmen am ehesten zu Konflikten beitragen, überraschte die Forscher. Im Gegensatz zur bisherigen Lehrmeinung hingen Gewaltausbrüche nur schwach mit ökonomischen Faktoren wie Vermögen, Ungleichheit oder Ereignissen wie Überschwemmungen zusammen. Stattdessen spielte folgender Faktor die grösste Rolle: Wenn in einem Dorf die ethnische Minderheit an der politischen Führung beteiligt wurde, brach öfter Gewalt aus. Erwartet würde das Gegenteil.

Robert Blair warnt vor einer falschen Interpretation: Vermutlich sei die politische Mitbestimmung nicht die Ursache von Gewalt. Eher könnte es sein, dass ein Dorf nach einem Konflikt die Mitbestimmung einführe, aber dass dies allein nicht genüge und es danach zu weiterer Gewalt komme. Das müsse man nun untersuchen. Würde sich dieses Szenario bestätigen, könnten Berater in diesen Dörfern helfen, die politische Mitbestimmung zu verbessern.

Vorhersage noch zu langsam

Diese Resultate klingen vielversprechend, sind jedoch nur von begrenzter Aussagekraft. „Unser System taugt noch nicht zur Frühwarnung“, so Blair. „Zwischen Datensammlung und Prognose lagen zwei Jahre. Das ist viel zu langsam.“ Man könne zwar Dörfer erkennen, die besonders gefährdet sind. „Aber wir können der Polizei nicht sagen: Patroulliert nächste Woche im Dorf x, dort wird es zu Problemen kommen.“ Zumindest zeige der Pilotversuch, dass eine automatisierte Prognose von Gewalt grundsätzlich möglich sei.

Auch der Konfliktforscher Lars-Erik Cederman von der ETH Zürich arbeitet an einem Frühwarnsystem für Gewaltausbrüche. Er lobt die Arbeit der US-Forscher, weist jedoch auch auf Schwächen hin. So sei die Datenerhebung in 250 isolierten und schwer zu erreichenden Dörfern für regelmässige Prognosen zu teuer.

Wir können der Polizei nicht sagen: Patroulliert nächste Woche im Dorf x, dort wird es zu Problemen kommen.

Der Politologe Blair teilt diese Kritik. Inzwischen baut seine Forschungsgruppe Frühwarnsysteme auf, bei denen sie mit Polizei und anderen Organisationen kooperieren. Die eigene, kostspielige Datensammlung fällt dabei weg. In Indonesien und im Irak haben sie bereits Projekte begonnen.

Die Nachfrage ist gross

In den Zeiten von Terrorismus und gescheiterten Staaten, so ETH-Forscher Cederman, sei die Nachfrage nach Gewaltprognosen gross. Interessant seien sie für die Uno mit ihren Friedensmissionen, aber auch für Regierungen und Geheimdienste. Blair etwa kooperiert sowohl mit Nichtregierungsorganisationen als auch mit der CIA.

Die Erforschung von Konflikten sei ein sehr sensibles und hochpolitisches Thema, sagt Cederman. Organisationen dürften oft keine Daten erheben, und Staaten mit inneren Konflikten gäben ihre selbst erhobenen Daten meist nicht heraus. Und die erhältlichen Daten seien oft von schlechter Qualität. Der Forscher warnt darum davor, die Fähigkeiten der Systeme zu überschätzen.

Ohne Realitätscheck durch Experten lieferten solche Systeme unbrauchbare Warnungen. Es lohnt sich wohl, sich an diese Aussage zu erinnern, wenn die nächsten Sicherheitsanalysen von Behörden oder Geheimdiensten die Runde machen.

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