«Einstein»: Wie bereiten Sie sich auf einen Einsatz mit Ihrem Care-Team vor?
Walter Meier : Wir arbeiten mit Checklisten, damit in der Hektik nichts vergessen geht: Was sind die Fakten? Wie viele Passagiere sind betroffen? So kann ich abschätzen, wie viele Care-Leute ich aufbieten muss. Ich checke das Briefing des Personals: Was ist unserer Aufgabe? Wo sind bereits Angehörige eingetroffen? Wie lautet die Sprachregelung? Aber ich bereite mich auch mental auf den Einsatz vor, indem ich ein paar Minuten Stille halte und bete. Bevor ich losfahre, bitte ich meine Partnerin, an mich zu denken.
Sie und Ihre Leute treffen am Flughafen ein. Was tun Sie in der ersten Akutphase?
Wir bringen Angehörige und Betroffene in einen geschützten Raum – wenn sie möchten. Dort erhalten sie psychologische Erste Hilfe: Jeder Betroffene darf über seine Ängste sprechen, auch über seine Wut. Er darf alle seine Gefühle ausdrücken. Wir beziehen auch Kinder in solche Gespräche mit ein. Ihre Sorgen dürfen nicht übergangen oder billig abgespeist werden. Aber Fragen über den Verbleib von Angehörigen dürfen wir nicht beantworten. Wir sind dazu da, mit den Wartenden die Ungewissheit und die Trauer auszuhalten. Wenn ein Betreuer nicht mehr kann, organisiere ich Ersatz. Und was auch dazugehört: eine gute Verpflegung. Der psychische Schock erstickt das Hungergefühl. Trotzdem hilft das Essen, die Betroffenen zu stabilisieren.
Im Falle von Flug MH370 geht es um das Schicksal von 239 Menschen. Entsprechend sind es Hunderte von Betroffenen, die im Flughafen Peking teilweise campieren. Aus Protest gegen die malaysische Informationspolitik war auch ein Hungerstreik geplant. Worauf würden Sie bei einem solchen Ereignis besonders achten?
Ich weiss, dass ich mich von der Unruhe und Unsicherheit anstecken lassen kann und versuche, ganz bewusst ruhig zu bleiben. Unerfahrenen Kollegen rate ich, sich zunächst einem erfahrenen Betreuer anzuschliessen und den Dienst zu zweit zu leisten. Grundsätzlich ist das schweigende Mit-Aushalten der Unsicherheit und Verzweiflung besser, als viele Worte zu machen. Ich weiss von einem Geistlichen, der den Angehörigen eines Absturzopfers bei der Begrüssung sagte: «Ihr Vater ist nun an einem schöneren Ort.» Solche Aussagen machen wir nie und ich halte dies nicht für die Art von Trost, die Menschen nun brauchen.
Wo liegen Probleme für ihr Team?
Es kommt vor, dass ein Kollege oder eine Kollegin fürchtet, etwas falsch zu machen. Diese Furcht ist bei meinem Team nicht nötig. Wenn Sie einem verzweifelten, trauernden Menschen mit Anteilnahme begegnen, dann können Sie nicht viel falsch machen.
Brauchen Betroffene auch praktische Unterstützung?
Wenn nötig, stehen wir aufgewühlten Menschen auch im Hotel bei oder organisieren ihren Transport nach Hause. Als am 24. November 2001 in Bassersdorf eine Maschine der Crossair in den Wald stürzte, konnte ein älterer Herr nicht mehr mit seinem Auto nach Hause fahren. Er hatte seinen Sohn und die Schwiegertochter abholen wollen und gerade erfahren, dass ihre Namen nicht auf der Liste der Überlebenden standen. Ich war selber auch sehr traurig, doch es gehörte zu meinen Aufgaben, ihn sicher nach Hause zu bringen.
Die Angehörigen und Freunde, die auf dem Flughafen in Peking ausharrten, wussten auch bald zwei Wochen nach dem Verschwinden von Flug MH370 nicht, ob die Maschine abgestürzt war oder entführt wurde. Was bedeutet diese wochenlange Ungewissheit für ein Care-Team?
Das Hauptproblem für die Betroffenen ist, dass keine gesicherten Informationen vorliegen. Dazu kommt, dass heute die meisten über ihre mobilen Kommunikationsmittel Zugang zu spekulativen Kommentaren und Analysen haben, die sie zusätzlich verunsichern. Hier gilt es, auf keinen Fall selbst Spekulationen anzustellen. Wir lassen die Leute ihre Hoffnungen aussprechen, aber kommentieren sie nicht. Die Mentalität oder Herkunft der Angehörigen spielt für uns keine Rolle. Die Trauer wird möglicherweise unterschiedlich gelebt, der Verlust anders verarbeitet. Aber das kommt viel später, nach der Akutphase.