Reaktorunfälle sind nicht wie andere Katastrophen, denn es ist nie wirklich vorbei. Studien der US-amerikanischen Psychologin Evelyn Bromet ergaben, dass die psychischen Probleme nach allen grossen Katastrophen im ersten Jahr um etwa 20 Prozent steigen. Doch bei nuklearen Katastrophen ist die Zahl höher, weil die Gefahr unsichtbar ist und überall lauern kann.
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Der japanische Psychiater Tsuyoshi Akiyama kommt selbst aus Fukushima und kennt die Situation vor Ort: «Die Krebsrate in Fukushima hat seit 2011 nicht zugenommen, doch die Angst ist da: Vielleicht bekommt mein Kind Krebs, wenn es 20 ist. Oder meine Enkel». Diese Ungewissheit verursache eine enorme Anspannung.
Auch die Menschen, die am 11. März 2011 vom Tsunami überrascht wurden, hat es hart getroffen. Sie haben ihre Liebsten verloren und oft ihre Existenz. «Aber der Tsunami ist vorbei, die Menschen konnten trauern, ihre Häuser werden wiederaufgebaut, ein Neustart ist möglich», sagt Akiyama. All das gilt für die Evakuierten aus Fukushima nicht. Selbst wenn sie einst zurück in ihre Häuser können, hören die Sorgen niemals auf.
Was bist du für eine Mutter?
Zu den Sorgen gehöre auch das soziale Stigma, erzählte Tsuyoshi Akiyama kürzlich auf einer Pressekonferenz. Dort stellte er Projekte vor, die den Betroffenen helfen sollen, mit der Angst und der Unsicherheit umzugehen. Akiyama berichtete von einer zurückgekehrten Mutter, die ihr Kind ermuntert, ins Freie zu gehen, um mit anderen zu spielen. Die Reaktion der Verwandten war hart: «Was bist du für eine Mutter? Wie kannst du dein Kind den gefährlichen Strahlen aussetzen?»
Rund 160‘000 Menschen verliessen Fukushima nach dem Reaktorunglück im März 2011. Sie wurden evakuiert oder flohen freiwillig. Viele werden nie zurückkehren, egal als wie sicher die Behörden ihre Heimatregion einstufen. Aber gleich, wo sie leben: Die Angst haben sie trotzdem im Gepäck. Noch weiss man nicht, wie sie sich langfristig auf die Gesellschaft auswirken wird. Langzeitstudien bei Tschernobyl-Betroffenen zeigen jedoch, dass sich die Furcht vor der Strahlung nicht einfach auflöst.
Vieles in Tschernobyl schon erlebt
Evelyn Bromet hat die Opfer des Reaktorunglücks in Tschernobyl in einer Langzeitstudie begleitet. Unter anderem beobachtete sie 300 Kinder, die kurz vor oder nach dem Supergau in der Ukraine geboren wurden. Die Sprösslinge entwickelten sich ganz normal: Mit elf Jahren zeigten sie keinerlei Unterschiede zu Gleichaltrigen aus einer Kontrollgruppe; sie waren geistig und körperlich ebenso gut entwickelt, zeigten keine Auffälligkeiten beim Bluttest und auch nicht bei den schulischen Leistungen.
Ihre Mütter sahen das ganz anders: 37 Prozent von ihnen fand, dass die Gesundheit ihrer Kinder schlecht oder gar sehr schlecht sei. Die Mütter der Kontrollgruppe lagen bei gerade einmal 14 Prozent. Diese grosse, diffuse Angst um die Gesundheit ist typisch für Strahlungs-Opfer. Bromet beobachtete auch Depressionen, Angststörungen oder posttraumatische Belastungsstörungen. Manche Patienten entwickelten regelrechte körperliche Beschwerden, obwohl objektiv alles in Ordnung war.
Die Ärzte waren damals nicht entsprechend geschult, erzählt die Psychologin: «Sie waren sich dieser psychologischen Auswirkungen nicht bewusst und verbanden Diagnosen und Symptome oft wahllos mit Tschernobyl.» Das machte es für die Patienten meist noch schlimmer. In Japan ist das heute anders: Die Ärzte sind besser geschult und die Strahlenbelastung der Menschen wird ständig gemessen.
Die Menschen brauchen Hilfe
Tsuyoshi Akiyama kennt diese Studien und will es in Fukushima besser machen. Der Spezialist für Neuropsychiatrie und Psychosomatik hat sich dafür eingesetzt, dass die Menschen psychologische Hilfe erhalten. Einige Programme laufen bereits: Krankenschwestern, Ärzte und andere Mitarbeiter organisieren Treffen und Spielgruppen, um Kontakte unter den Betroffenen zu stärken. Sie regen Diskussionen über das Geschehene an. Sie versuchen den Menschen beizubringen, auf Medienberichte über Strahlenkrankheiten nicht mit Panik zu reagieren. Sie fördern die Solidarität unter den Betroffenen. Es geht aber auch um Hilfe gegen Alkoholmissbrauch.
Noch werden die Angebote zögerlich angenommen. Aber erste Erhebungen zeigen, dass sie funktionieren und von den Betroffenen als nützliche Hilfe gesehen werden, zum Teil auch als Erleichterung. Weil es in Japan nicht üblich ist, andere mit den eigenen Problemen zu belasten, sprechen hier einige zum ersten Mal über ihre Gefühle und Ängste.
Nicht alle können erreicht werden
Doch es werden längst nicht alle erreicht. «Den Menschen, die zu diesen Programmen kommen, geht es relativ gut», sagt Akiyama, «das grössere Problem sind die Menschen, die nicht teilnehmen.» Für sie wird versucht, individuelle Hilfe zu organisieren.
Für all jene jedoch, die Fukushima verlassen haben und heute irgendwo in Japan leben – laut Schätzungen sind das immerhin 50 Prozent der ehemaligen Bewohner der Präfektur – gebe es bis heute keine psychologische Unterstützung, sagt Tsuyoshi Akiyama: «Diesen Menschen können wir nicht helfen.»