Es ist eher selten, dass eine ganze Fachrichtung sich selber so in Frage stellt, wie es die Geisteswissenschaften in einem Positionspapier letztes Jahr getan haben. «Für eine Erneuerung der Geisteswissenschaften» heisst das Papier, veröffentlicht hat es die Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Sie empfiehlt: Philosophie, Geschichte oder Sprachwissenschaften sollen grösser, sichtbarer und arbeitsmarkttauglicher werden.
«Die Geisteswissenschaften stehen unter einem hohen Legitimationsdruck, weil nicht unmittelbar sichtbar ist, was ihre Leistungen sind, und weil sie im öffentlichen Diskurs zu wenig präsent sind», sagt Markus Zürcher, Generalsekretär der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften und Mitverfasser des Positionspapiers. Das soll sich nun ändern.
Ist Nützlichkeit die Lösung?
Vorbild ist die Entwicklung in den Sozial-, Natur- und Ingenieurwissenschaften. «Ich halte es für legitim, dass sich ein Literaturwissenschaftler mit dem Werk von Goethe auseinandersetzt», sagt Zürcher. Doch es bestehe die Gefahr, dass die breite Öffentlichkeit es nicht mitbekomme. «Die Geisteswissenschaftler sollen sich vermehrt mit den Dingen befassen, die gegenwärtig die Bevölkerung oder die Politik bewegen. Dann werden sie auch wieder vermehrt wahrgenommen und ihr Renommee steigt», ist Zürcher überzeugt.
Müssen sich also auch die Geisteswissenschaften dem Nützlichkeitsdiktat unterwerfen, um ihr Renommee zurückzuerobern, fragen Kritiker sorgenvoll. Nein, findet Danielle Chaperon, Professorin für französische Literatur und Vizerektorin der Universität Lausanne: «Immer dieses Wort ‚Nützlichkeit‘. Wir sollten selbstbewusst antworten: Unsere Studierenden sind überall, sie nähren unsere Gesellschaft. Man muss es nur sagen.»
Die Geisteswissenschaften würden zwar tatsächlich von Medien und Politik angegriffen, dabei könne man durchaus stolz sein auf das, was die Schweizer Geisteswissenschaften leisteten.
«Low-Cost»-Forschung ist auch produktiv
Doch könnten die Geisteswissenschaftler nicht noch mehr erreichen, wenn sie sich etwas stärker zusammenschliessen würden, nach dem Vorbild der Naturwissenschaften? Raus aus dem Elfenbeinturm und rein in Grossprojekte und internationale Publikationen, so könnte man denn auch eine weitere Forderung des Positionspapiers etwas überspitzt zusammenfassen. «In den Geisteswissenschaften gilt immer noch das klassische Modell mit einem Professor, einigen Assistierenden und dann den Studenten», sagt Markus Zürcher – keine grossen Kollaborationen, keine riesigen internationalen Projekte.
Die Geisteswissenschaften würden nun mal keine millionenteuren Apparate benötigen wie einen Teilchenbeschleuniger, für den sich zahlreiche Institutionen zusammenschliessen müssten, um ihn überhaupt bezahlen zu können, sagt Danielle Chaperon. Die Geisteswissenschaften bräuchten in erster Linie Bibliotheken, Informatik-Infrastruktur und Assistierende. «Low-Cost»-Forschung sozusagen, aber nicht minder produktiv.
An einem Punkt sind sich aber Danielle Chaperon und Markus Zürcher völlig einig: Die Geisteswissenschaften müssten lernen besser zu kommunizieren und ihre Forschungsresultate mit der Gesellschaft zu teilen. Eine bessere PR brauchen die Geisteswissenschaften also, das scheint der kleinste gemeinsame Nenner.