Wir gross ist die Wahrscheinlichkeit, von einem Auto überfahren zu werden? Wer darauf eine Antwort will, sucht wohl zuerst einmal nach Daten zu früheren Autounfällen. Man zählt, wie viele Menschen in den letzten Jahren bei Autounfällen gestorben sind und wie viele nicht. Und je mehr Daten man findet, – je grösser die Stichprobe also ist –, desto vertrauenswürdiger ist das Resultat.
Davon gehen viele Menschen intuitiv aus. Doch diese Annahme muss sich auch beweisen lassen. Genau das hat der Basler Jacob I Bernoulli getan – mit seinem «Gesetz der grossen Zahlen». Vor 300 Jahren wurde es erstmals publiziert, in Bernoullis Buch «Ars Conjectandi» («Die Kunst des Mutmassens»). Heute ist dieses Werk ein Grundstein der Wahrscheinlichkeitstheorie.
Sicherheit in einer unsicheren Welt
Das Problem, das sich Jacob Bernoulli vornahm, lautet so: Nehmen Sie an, Sie hätten einen Sack und darin eine Menge weisser und schwarzer Kugeln, aber Sie wissen nicht genau, wie viele. Sie nehmen eine Kugel heraus, merken sich, welche Farbe sie hat, und legen sie wieder in den Sack. Dann nehmen Sie die nächste und tun das gleiche. Dann wieder eine und wieder eine. Können Sie so herausfinden, wie viele schwarze und wie viele weisse Kugeln im Sack liegen?
Ja, war Jacob Bernoullis Antwort. Irgendwann zwischen 1687 und 1689 konnte er mit einem rigorosen mathematischen Beweis erstmals zeigen: Wiederholt man den Vorgang oft genug, dann kommt man beliebig genau an die tatsächliche Anzahl der weissen und schwarzen Kugeln im Sack heran.
«Das heisst, man kann etwas über die unbekannte Welt herausfinden durch wiederholte Versuche», sagt der Mathematik-Historiker Stephen Stigler von der University of Chicago. Oder anders gesagt: Unbekannte Wahrscheinlichkeiten lassen sich anhand der beobachteten relativen Häufigkeiten berechnen. Darauf basiert heute die ganze Statistik, von Unfallzahlen bis zu Scheidungsraten.
Ein nützliches Gesetz
Jacob Bernoulli hatte also ein Gesetz entdeckt, das die Welt verändern sollte. Er konnte es zwar nur für Spezialfälle beweisen; doch später weiteten andere Mathematiker das «Gesetz der grossen Zahlen» noch aus.
300 Jahre «Ars Conjectandi»
«Schon Bernoulli erkannte sofort, wie wichtig sein Beweis war», sagt Martin Mattmüller von der Universitätsbibliothek Basel. Er verweist auf das wissenschaftliche Tagebuch von Jacob Bernoulli, das im Original in der Basler Bibliothek liegt. «Hier wertet Bernoulli das neue Gesetz sogar höher als die berühmte Quadratur des Kreises, eines der populärsten Probleme der Mathematik.»
Der Grund: Das Gesetz der grossen Zahlen hat einen praktischen Nutzen. Man kann damit etwas aussagen über die Welt, über die Wahrscheinlichkeiten bestimmter Ereignisse in der Zukunft – vorausgeset, die Zukunft verhält sich wie die Vergangenheit. Das erkannte Bernoulli. Er versuchte zum Beispiel herauszufinden, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Mensch im nächsten Jahr stirbt.
Mangel an Daten
Erfolg hatte er nicht, denn es mangelte ihm an Daten. Damals gab es erst wenige Städte, die ihre Toten in Sterbetafeln auflisteten. Und Bernoulli kam nicht an diese Daten heran. «Das war einer der Gründe, weshalb er seinen Beweis nicht sofort veröffentlichte», sagt Mattmüller, «er konnte ihn nicht an einem guten Datensatz ausprobieren.» Erst 1713 wurde der Beweis dann publiziert, in der «Ars Conjectandi». Jacob Bernoulli erlebte das nicht mehr mit; er was schon acht Jahre zuvor gestorben.
Das Buch wurde mit Interesse gelesen, vor allem von Jacob Bernoullis beiden Konkurrenten Pierre Rémond de Montmort und Abraham de Moivre. Die beiden französischen Mathematiker beschäftigten sich ebenfalls mit Wahrscheinlichkeiten. Sie bauten teilweise auf Bernoulli auf und schrieben zu derselben Zeit Bücher über Risikotheorie.
So legten diese drei Denker innert weniger Jahre das Fundament eines ganz neuen Gebiets in der Mathematik: der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Früher habe man sich in diesem Gebiet quasi nur mit Tipps und Tricks für Glücksspieler beschäftigt, sagt Mattmüller. Da ging es um Gewinnchancen beim Würfeln und Ähnliches.
Dank Bernoulli und seinen französischen Kollegen schaffte die Wahrscheinlichkeitsrechnung den Sprung aus den Kasinos in die Welt hinaus. Ohne sie könnten heute weder Versicherungen betrieben werden, noch könnte man die Wirksamkeit von Medikamenten sauber prüfen. Die moderne Naturwissenschaft stünde quasi ohne mathematisches Fundament da.
Denn in den Naturwissenschaften versucht man ja gerade, aus wiederholten Versuchen etwas über die Natur zu lernen. «Unser Bauchgefühl sagt uns, dass wir immer näher zur Wahrheit kommen, je mehr Indizien wir sammeln», sagt Stephen Stigler. «Jacob Bernoulli hat gezeigt, dass dieses Gefühl uns nicht trügt, und dass es sich präzis mathematisch fassen lässt.»