Bei der Aids-Prävention ist man am Ende des Lateins. Pietro Vernazza, Chefarzt für Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen sagt: «Ich glaube, man darf davon ausgehen, dass wir mit Präventionsbestrebungen zur Verhinderung von HIV durch Verhaltensänderungen eigentlich an einer Limite angekommen sind.»
Vernazza ist schon seit Jahren der Ansicht, dass Verhaltens-Botschaften wie Safer Sex allein nicht mehr genügen. Er setzt sich dafür ein, dass auch die Aids-Medikamente eine Rolle in der Prävention spielen sollten: «Mit der Behandlung haben wir eine ganz andere Möglichkeit – nämlich ansteckende Menschen so zu behandeln, dass sie niemanden mehr anstecken.»
Mehr Medikamente gegen die Ansteckung
Studien haben gezeigt: HIV-Positive, die regelmässig AIDS-Medikamente einnehmen und ansonsten gesund sind, müssen nicht befürchten, ihren Sexualpartner beim ungschützten Kontakt zu infizieren. Im Extremfall kann die Präventionsbotschaft sogar heissen: Pille statt Kondom. Die Schweizer AIDS-Prävention wurde bereits vor einigen Jahren angepasst.
Nun hat auch die WHO diese Studien zum Anlass genommen, ihre Richtlinien für den Einsatz von Aids-Medikamenten zu ändern. Zwar bleibt das Kondom-Gebot der WHO bestehen, doch parallel sollen weltweit mehr HIV-Positive mit Medikamenten versorgt werden, um die Ansteckungsraten zu senken – auch und vor allem Menschen in den Entwicklungsländern.
HIV-negative Partner und Babys schützen
Wenn HIV-Positive möglichst früh Medikamente einnehmen, geben sie das Virus nicht weiter. Deshalb sollen die Medikamente neu auch jenen Betroffenen angeboten werden, die noch gesund sind, also über ein funktionsfähiges Immunsystem verfügen. Die WHO nennt explizit HIV-Positive, die mit einem HIV-negativen Partner zusammenleben und schwangere Frauen.
Besonders rasch könnte die Umsetzung in Entwicklungsländern bei schwangeren Frauen geschehen. Denn diese erhalten schon heute oft eine Medikamententherapie, um das ungeborene Kind vor dem Virus zu schützen. Zur Zeit wird jedoch mit dem Ende Stillzeit die Therapie für die Mütter in den armen Ländern wieder gestoppt.
Die neue WHO-Strategie sieht eine lebenslange Medikamenten-Therapie für die Mütter vor. Dadurch werde nun nicht nur wie bisher das Kind geschützt, sondern auch der womöglich HIV-negative Partner der Frau, sagt der Arzt Bernhard Kerschberger von Medecins sans Frontiers in Swaziland.
Ziel: lebenslange Medikamenten-Versorgung
Anders als etwa in der Schweiz ändere das in Entwicklungsländern jedoch nichts an den althergebrachten Präventions-Botschaften – etwa ein Kondom zu verwenden, sagt Bernhard Kerschberger: «Der Hauptgrund ist, dass viele erwachsene Menschen – also nicht nur die Mütter – die Medikamente leider nicht regelmässig nehmen.»
Medecins sans Frontiers überprüft zurzeit den neuen Ansatz in einem Pilotprojekt in Swaziland. Bis jetzt seien rund 70 Prozent der Schwangeren bereit, die Medikamenten-Therapie nach der Geburt und dem Abstillen weiter einzunehmen. Ziel ist es, über 90 Prozent der Mütter lebenslang mit Medikamenten zu versorgen.
Auch die HIV-Positiven profitieren
HIV-negative Menschen profitieren also von der Medikamentenvergabe; doch wie sieht es mit Nutzen und Nebenwirkungen für die HIV-Positiven selber aus, wenn sie viel früher mit der Medikamenten-Einnahme beginnen? Studien hierzu fehlen, sagt Pietro Vernazza, doch «eine HIV-Infektion, bei der sich Virus vermehrt, ist für den Körper ein Problem.» Diese Viren-Vermehrung mit Medikamenten schon früh zu unterdrücken, schütze vermutlich auch die Gesundheit der HIV-Positiven.
Die neue WHO-Strategie wird zurzeit erst in den wenigsten Entwicklungsländern angewendet. Doch dies könnte sich rasch ändern. Denn teuer sind die Aids-Medikamente nicht mehr: Für rund 100 Franken pro Jahr kann etwa eine HIV-positive Mutter in Swaziland ein Jahr lang behandelt werden. Das ist hundertmal günstiger als noch vor zehn Jahren.