Frédéric Kaplan baut sich eine Zeitmaschine. Mit ihr möchte der Leiter des Fachbereichs Digital Humanities – digitale Geisteswissenschaften – der ETH Lausanne in wenigen Jahren durch die letzten tausend Jahre Venedigs reisen. Verrückt? Nein, seine «Venice Time Machine» wird derzeit mit den Bits und Bytes aus 80 Kilometern Büchern und Akten gebaut, die im venezianischen Staatsarchiv lagern.
Venedig war immer eine hochorganisierte Stadt, weshalb sie heute eines der grössten Archive der Welt hat. Die Dogen und ihre Nachfolger hatten über die Jahrhunderte alles akribisch gesammelt: Steuererklärungen, Arbeitsverträge, Briefe, Karten, Bilder, Todes- und Geburtsurkunden. Jedes Boot, das ein- und ausfuhr, wurde aufgelistet, jede städtebauliche Massnahme notiert.
Historisches Facebook
Etwa zehn Jahre werden Kaplan und sein Team für die komplette Digitalisierung all der historischen Dokumente brauchen. 450 Bücher am Tag müssen sie dafür erfassen. Von dem riesigen Aufwand, der dafür betrieben wird, soll hier gar nicht die Rede sein. Aber am Ende, so die Idee, kann man den Preis für ein Kilo Seebrasse im Jahr 1215 genauso schnell herausfinden wie die Bewohner eines ganz bestimmten Hauses in der Via Garibaldi 1860.
Wobei diese Einzeldaten fast schon nur nettes Beiwerk sind. Richtig spannend wird es, wenn man alle Daten zusammen nimmt und sich plötzlich ein komplexes Bild der damaligen Marktwirtschaft herausbildet. Oder wenn man mittels 3-D-Animation eine Zeitreise von der Blütezeit der Republik Venedig bis zur Touristenmetropole von heute unternehmen kann.
Kaplan schwebt gar ein historisches Facebook vor: «In unserer Datenbank kann man dann einen ganzen Haufen biografischer Elemente einer Person finden: Wann sie geboren wurde, wo sie gelebt hat, wieviel sie verdient hat – wen sie kannte!»
Solche Verbindungen zwischen Menschen oder Ereignissen aufzuzeigen, gehört zu den Chancen, die computergestützte Verfahren in die Geisteswissenschaften bringen. Dafür müssen gar nicht immer kilometerweise Bücher digitalisiert werden. Manchmal reichen schon frei zugängliche Datenbanken – und die richtige Frage.
Hotspots der Kulturgeschichte
Eine stellte sich Maximilian Schich. «Geburts- und Todesdaten von Kulturschaffenden sind für Kunsthistoriker etwas vom Langweiligsten überhaupt», sagt der promovierte Kunsthistoriker, «doch verfügt man über genügend langweilige Daten, so finden sich darin plötzlich spannende Muster.»
Alles fing damit an, dass er sich fragte, warum 200 Antiquare, die er in einer sehr kleinen Datenbank gefunden hatte, zwar in allen Teilen Europas geboren waren – aber zum grossen Teil in den drei Metropolen Rom, Paris und Dresden starben. Waren die Archivare in Städte gezogen, die für ihren Berufsstand besonders attraktiv waren? Konnte also ihre Migration etwas über die kulturelle Bedeutung von Orten sagen?
So ist es. Schich wertete die Geburts- und Sterbeorte von 150‘000 namhaften Persönlichketen der letzten 2000 Jahre statistisch aus; der Designer Mauro Martino visualisierte die Ergebnisse. Heraus kam eine attraktive Animation, die zeigt, welche Städte über die Jahrhunderte für Kulturschaffende besonders attraktiv waren – angefangen bei Athen und Rom über London bis Berlin.
Suche nach dem Geheimrezept für Innovationen
«So eine Visualisierung ist oft viel aufschlussreicher als die blossen Daten», sagt Dirk Helbing. Der Physiker leitet die Professur für Computational Social Science der ETH Zürich, wo Schichs Arbeit umgesetzt wurde. Für Helbing steht die Geschichtsforschung mit Big Data erst am Anfang: «Wir könnten herausfinden, wem die Kulturschaffenden begegnet sind. So könnte man genauer erschliessen, wer wen beeinflusst hat und wie neue Ideen entstanden sind». Durch die grosse Datenmenge würde auch der Einfluss der zahlreichen wenig bekannten Zeitgenossen sichtbar. Was Helbing interessiert: Was muss passieren, damit Innovationen zustande kommen – gibt es dafür ein «Geheimrezept»?
Daran forscht auch einer seiner Mitarbeiter. Tobias Kuhn schaut, wie wissenschaftliche Ideen entstehen und sich verbreiten. Der Informatiker nutzt dafür Archive mit wissenschaftlichen Publikationen und analysiert, welche Konzepte wie häufig und wo zitiert wurden. Bisher konnte er bereits herausfinden, welche Themen zu welcher Zeit besonders wichtig waren (siehe Grafik links). Doch er hofft, bald noch weitere Zusammenhänge aufdecken zu können. Dann könnte man vielleicht sogar voraussagen, ob beispielsweise eine gewisse Erkenntnis im Bereich der Nanotechnologie in Zukunft Erfolg haben wird.
Bei aller Euphorie findet der Einzug des Computers in die Geisteswissenschaften auch seine Kritiker: Den Daten würde zu viel Macht verliehen und die kritische Reflexion vernachlässigt. Der Zeitmaschinen-Konstrukteur Frédéric Kaplan sieht das anders. «Wir erleben in den Geisteswissenschaften gerade etwas, was in den Biowissenschaften schon vor 30 Jahren geschehen ist». Sein grosses Vorbild ist das Human Genome Project : Für die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts arbeiteten Biologen weltweit erfolgreich zusammen – mit einer gemeinsamen Datenbank.
Kampf gegen das Verschwinden der Vergangenheit
Wichtig findet Kaplan, dass darüber aufgeklärt wird, wie der Zugang zu den Daten entstanden ist. «Dann scheint mir persönlich die Gefahr einer Falschinterpretation nicht so schlimm wie das Verschwinden der Vergangenheit, weil die historischen Daten nicht mehr erreichbar sind».
2016 sollen die ersten Zeitreisen möglich sein. Dann will Frédéric Kaplan durch die 3-D-Version der ersten virtuellen Stadtviertel Venedigs spazieren und sich frei durch die Jahrhunderte bewegen. Er freut sich darauf: «Ja, es gab eine Internet-Revolution. Aber die Welt hat auch schon vor dem Jahr 2000 existiert. Ich hoffe, dass wir es schaffen, der Vergangenheit wieder einen grösseren Stellenwert in der Gegenwart zu geben».