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Zahnschäden am Oberkiefer aus einer Grotte in Marokko. Der Fund ist zwischen 14'000 and 15'000 Jahre alt.
Legende: Gelöchert: Zahnschäden am Oberkiefer aus einer Grotte in Marokko. Der Fund ist zwischen 14'000 und 15'000 Jahre alt. Image courtesy of Isabelle De Groote.

Mensch Wie Karies Karriere machte

15‘000 Jahre alte Kieferknochen mit Zähnen voller Karies und Spuren von Abszessen geben Aufschluss über die Leiden unserer Vorfahren. Und eine Veränderung ihrer Ernährung, die Schäden am Gebiss begünstigte.

«Diese Menschen müssen oft Zahnschmerzen gehabt haben», sagt die britische Archäologin Louise Humphrey. «Bei Abszessen drückt der Eiter auf den Knochen, bis er durchbricht. Das kann extrem schmerzhaft sein.» Die kariösen Zähne stammen aus einer Höhle namens «Grotte des Pigeons» bei Taforalt in Marokko. Sie sind für die Forscher eine Überraschung: Bisher galt die Lehrmeinung, dass die Karies sich erst nach der Entstehung der Landwirtschaft vor etwa 10‘000 Jahren unter den Menschen verbreitet hatte. Doch die Menschen von Taforalt lebten Tausende Jahre früher – und sie waren Jäger und Sammler, keine Bauern.

In dieser Grotte fanden die Wissenschaftler die menschlichen Überreste.
Legende: Der Fundort: In dieser Grotte fanden die Wissenschaftler die menschlichen Überreste. Image courtesy of Ian Cartwright

«Viele Zahnfunde zeigen, dass Jäger- und Sammler vor 20‘000 Jahren oder früher kaum Karies hatten», sagt Humphrey, die die Knochen von Taforalt mitanalysiert hat. Damit Karies entsteht, müssen Kariesbakterien in der Mundhöhle vorhanden sein, und sie brauchen genügend Nahrung: Zucker und Kohlenhydrate. Jäger- und Sammler aber assen vorwiegend Fleisch, also Proteine.

Eicheln sammeln in grossem Stil

Zum Verhängnis wurde den Jägern von Taforalt eine Idee, die an sich gut war. Sie erkannten, dass sie in ihrer Gegend von einer hervorragenden Nahrungsquelle umgeben waren: von zahlreichen Stein-Eichen, die gehaltvolle und süsse Eicheln trugen. Sie boten viel mehr Kalorien in einem Stück als etwa die kleinen Samen wilder Getreidesorten – und so lohnte es sich, sie systematisch zu sammeln. In Taforalt finden sich die ältesten bis anhin bekannten Spuren, die davon zeugen, dass Jäger und Sammler intensiv bestimmte Früchte sammelten.

In der Taubenhöhle finden sich auch Reste von Körben – vielleicht Sammelkörbe: Es entstand eine kleine Eichel-Industrie in Taforalt, und plötzlich wurde die Höhle viel intensiver genutzt, sagt Humphrey: «Sie wurde die letzten 200'000 Jahre regelmässig von Menschen besucht. Aber vor 15'000 Jahren wurden plötzlich dicke Ascheschichten abgelagert – die Reste von vielen Lagerfeuern.»

Die Forscher vermuten, dass die Menschen nun ihre Wanderungen unterbrachen und zumindest saisonal hier wohnten, um die reichen Eichelgründe zu nutzen. Plötzlich assen die Menschen von Taforalt viel mehr Kohlenhydrate als früher. Sie schufen so in ihrem Mund ein Schlaraffenland für bestimmte Bakterien – Kariesbakterien. Die Folge waren Karies und Zahnabszesse.

Die Säure als Zahnschädling

Mit ihrer verhängnisvollen Liebe zur Eichel waren die Menschen von Taforalt Vorreiter: In den folgenden paar Tausend Jahren sammelten wohl immer mehr Stämme ums südliche Mittelmeer und anderswo systematischer Früchte und Samen. Sie begannen, die Samen zu sähen und erfanden dabei wohl die Landwirtschaft.

Von nun an war die Karies ein ständiger Begleiter aller Menschen. Die Bauern züchteten mit ihrer Ernährung die Kariesbakterien geradezu: Kohlenhydrate aus Getreide dienen den Kariesbakterien als Nahrung. Dabei produzieren sie Säure, was sich für den Menschen doppelt verhängnisvoll auswirkt.

Die Säure verdrängt die anderen, friedfertigen Bakterien im Mund, so entsteht mehr Lebensraum für die Kariesbakterien. Und es ist die Säure, die die Löcher in die Zähne ätzt. Biologen konnten aus den Genen des wichtigsten Kariesbakteriums herauslesen, dass es sich vor etwa 10'000 Jahren explosionsartig vermehrt haben muss – just zu dieser Zeit entstand die Landwirtschaft.

Mehr Zuckerrohr, mehr Löcher

Die epische Geschichte von Mensch und Karies hat übrigens noch weitere Kapitel: Die Karies nahm noch einmal drastisch zu, als im 19. Jahrhundert in den Kolonien immer mehr Zuckerrohr angebaut wurde, und darum die Preise fielen, sagt Louise Humphrey. Grossbritannien etwa hob 1874 den Zoll auf Zucker auf. Danach stieg der jährliche Prokopf-Verbrauch von 9 auf 40 Kilo und bald wurde praktisch jeder Erwachsene von Karies geplagt, statt etwa 30 bis 40 Prozent wie noch im Mittelalter.

Wegen dieser Misere kam auch ein neuer Berufsstand auf: die Zahnärzte. Und zumindest in den wohlhabenderen Gegenden konnten sie und die Zahnbürste die Geissel Karies zurückdrängen. In der Schweiz zum Beispiel befindet sich die Karies in den letzten 40 Jahren dank Prophylaxe auf dem Rückzug.

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