Im Burgund. Im englischen Städtchen Corbridge. In Budapest. Nahe Rabat an der marokkanischen Atlantikküste. Sogar in Syrien.
Schon über 200 Mal stiessen Archäologinnen und Archäologen über diese länglichen, grünlich schimmernden Gegenstände. Sie pinselten sie frei, hoben sie vorsichtig aus dem Dreck und staunten nicht schlecht: Es waren schmuckvolle Messerscheiden aus dem Aargau.
Made in Baden
Auf den Fundstücken, die sie in den Händen hielten, konnten sie die aus Bronze gegossenen Buchstaben oft mühelos erkennen. «AQUISHE[lveticis] GEMELLIANVSF[ecit]» stand da. Ein lateinischer Satz. Frei übersetzt: «In Aquae Helveticae von Gemellianus gemacht».
«Aquae Helveticae», das war zur Zeit des Römischen Reiches ein beliebter Badeort an den heissen Quellen beim Limmatknie in Baden. Genau da, wo Mario Botta heute sein neues Thermalbad baut.
Und Gemellianus, das war jener Giesser, der dort um das 2. Jahrhundert n. Chr. schwitzend und gebückt in seiner Werkstatt schuftete. Der die glühende Bronze in einen Satz goss und zu einem antiken Markenprodukt auskühlen liess.
Vergleichsweise billig
Aber wieso kamen die Messerscheiden aus der Schweiz bis nach Frankreich, Marokko und sogar ins syrisch-irakische Grenzgebiet?
Das ist doch erstaunlich, denn an sich war Gemellianus' Produkt nichts Aussergewöhnliches. Ein Gebrauchsgegenstand ohne einzigartige Eigenschaften. Schmuck, vergleichsweise billig.
Die wenigen Touristen, die sich eine weite Reise zu den heissen Quellen in Aquae Helveticae leisten konnten, dürften weitaus teurere Kostbarkeiten besessen haben als ein bronzenes Massenprodukt.
Antikes Branding
Historikerinnen und Historiker gehen heute davon aus, dass die Messerscheiden des Gemellianus deshalb so weit verbreitet waren, weil die Messer aus dem Aargau damals einen besonders guten Ruf hatten.
Gemellianus Name diente dabei als eine Art antikes Branding: Trug man seine Messerscheide am Gürtel, konnte man voller Stolz behaupten, dass das Messer darin von besonders hoher Qualität war. Die Marke Gemellianus bürgte also für ein Messer «Made in Aquae Helveticae».
Damit dürfte die Messerscheide das gesellschaftliche Ansehen des Trägers beeinflusst haben. Mit dem Accessoire von Gemellianus zeigte man sich andern gegenüber stilbewusst und konnte sich von jenen abgrenzen, die sich ein teures Messer aus dem Aargau und eine Reise dorthin nicht leisten konnten.
Das Sackmesser von damals
Nicht zuletzt waren die Messerscheiden wohl auch einfach ein Andenken an das wohltuende Bad in den heissen Quellen. Von den Badegästen wurden sie als Souvenir in das ganze Römische Reich getragen, wo sie heute allmählich wiedergefunden werden.
So waren die Messerscheiden gewissermassen das erste Souvenir aus dem Gebiet der heutigen Schweiz – dem heutigen Schweizer Taschenmesser gar nicht unähnlich.
Frühe Raubkopien
Übrigens: Sogar mit Raubkopien hatte der erfolgreiche Gemellianus zu kämpfen. Forscherinnen gruben nämlich auch Messerscheiden aus, die sich stark am Vorbild aus Aquae Helveticae orientierten, aber nicht aus der Region stammten.
Offenbar war die Marke Gemellianus im ganzen Reich derart gefragt, dass sie von manchen Giessereien in weit entfernten römischen Provinzen kurzerhand kopiert wurde.