Welche Wesen schlummern in der Tiefe des Meeres? Das fragten sich Menschen zu allen Zeiten. Vor allem Seeleute malten sich die abenteuerlichsten Seeungeheuer aus.
Im 16. Jahrhundert beschrieb man etwa ein kurioses Tier mit dem schönen Namen «Tautrinker»: ein Fisch so gross wie ein Elefant, mit riesigen Stosszähnen. Dieses Meeresmonster hat die unangenehme Eigenschaft, dass es ans Ufer kommt und jeden zerfleischt, der sich dort aufhält.
Betrunkene Meeresbewohner
Aber der Tautrinker hat auch eine Schwachstelle: Er ist süchtig nach Morgentau. Frühmorgens wälzt er sich an Land, betrinkt sich am Tau – und ist danach so besoffen, dass er leichte Beute für die Jäger ist.
Der Tautrinker ist eines von zahlreichen Seemonstern, die im kürzlich erschienenen Sachbuch «Ungeheuerlich – Seemonster in Karten und Literatur 1491-1895» vorgestellt werden. Die historischen Illustrationen stammen aus Dokumenten und Seekarten vom 15. bis ins 19. Jahrhundert.
Der Osloer Historiker Eling Sandmo hat sie aus dem Bestand der norwegischen Nationalbibliothek zusammengetragen. Jeder Kreatur ist ein kurzes Kapitel gewidmet.
Mehr Mass, mehr Mut
Dass hinter diesen nordischen Monstersagen mehr steckt als Seemannsgarn und Schauergeschichten, das arbeitet Sandmo in seinem Buch heraus.
Die Berichte über die Monster funktionieren meist wie Märchen, mit einem psychologischen oder soziologischen Hintergrund. Jede Geschichte ist eine Art Lehrstück fürs Leben – eine Geschichte mit einer Moral.
Der Tautrinker etwa soll uns sagen: «Mässige dich!» Ein anderes Beispiel ist die riesige Seeschlange, die als «Aristokrat unter den Seemonstern» beschrieben wird. Bis zu 300 Meter wird sie lang und verschlingt Schiffe am Stück.
Angst hat sie nur vor dem, der sich ihr stellt und mit dem Schiff direkt auf sie zuhält. Davon kommt also, wer sich mutig gegen dieses mächtige Ungetüm wehrt.
Wissenschaft bändigt den Schrecken
Heute gilt es nicht mehr, alle Seemonster zu bändigen. Sie haben im Laufe der Zeit viel von ihrem Schrecken verloren. Eling Sandmo stellt dazu zwei Thesen auf.
Einerseits zeigt er auf, dass den Ungeheuern reale Tiere zu Grunde liegen: Der Tautrinker mit seinen Respekt einflössenden Stosszähnen ist das Walross. Je mehr die moderne Wissenschaft seit dem 19. Jahrhundert über Meerestiere herausfand, desto weniger schrecklich wurden sie.
Um sie weniger furchteinflössend zu machen, verglich man sie auch mit Tieren, die man schon kannte. Daher tragen viele auch ihre Entsprechung an Land im Namen: Wal-Ross, See-Löwe, See-Kuh.
Zum Gruseln am Meer
Sandmos zweite Erkenntnis: Je mehr man die Monster erforschte und beschrieb, desto mehr zogen sie sich zurück. Eling Sandmo illustriert das
anhand der historischen Seekarten: Je jünger die Karte, desto eher rücken die Monster an den Rand – in unbekannte, ferne Gebiete.
Solche Erkenntnisse machen das dünne Büchlein kulturhistorisch interessant. Enttäuschend ist einzig die Aufmachung: Die uralten Karten und Illustrationen verlieren durch das kleine Format und den Hochglanzdruck ihr Flair.
Dennoch ist «Ungeheuerlich» eine vergnügliche Lektüre – gerade für den Strand. Und die Geschichten sind erst noch halb so gruselig wie gedacht.