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Ein Becken in einem grossen Aquarium in Havanna, wo sich zwei Delfine und Therapeuten um Kinder kümmern, die mit Behinderungen leben müssen.
Legende: Im Einsatz für Kinder: In diesem Delfinbecken in Havanna kümmern sich Delfine und Therapeuten um Kinder, die mit Behinderungen leben müssen. Keystone

So populär wie umstritten Mythos Delfintherapie?

Therapien mit den niedlichen Meeressäugern tauchen in der Presse seit Jahren immer wieder als spektakuläre Erfolgsgeschichten auf. Doch in der Fachwelt sind die Methoden umstritten; wissenschaftliche Studien dazu gibt es kaum. Und der Nachweis für den Erfolg steht aus – auch langfristig.

Es tönt verlockend: Dank Delfintherapien machen zum Beispiel autistische Kinder in ihrer Entwicklung Fortschritte, die man nicht für möglich gehalten hätte. Das ist der Stoff für positive Pressegeschichten mit einem emotionalen Touch – mit Bildern von glücklichen Kindern auf dem Rücken von friedlichen Delfinen.

Auch im Internet sind diese Geschichten omnipräsent: Begeisterte Eltern berichten über positive Veränderungen im Verhalten von Kindern, die an Erkrankungen wie Depressionen, ADHD, Sprechstörungen oder an mehrfachen Behinderungen leiden.

Entspannte Situation mit den Liebsten

Diese Therapieform – auch unter der englischen Bezeichnung DAT («Dolphin assisted therapy») bekannt – wurde in den 1970er-Jahren in den USA vom Psychologen und Verhaltensforscher David E. Nathanson entwickelt und wird heute fast weltweit angeboten.

Die Attraktivität, die sie für Angehörige von behinderten Kindern hat, ist nachvollziehbar: «Sie findet am Meer, an einer Urlaubsdestination statt, die auf Familien mit einem behinderten Kind eingerichtet ist», sagt Barbara Jeltsch-Schudel, Titular-Professorin für klinische Heilpädagogik und Sozialpädagogik an der Universität Fribourg.

«Statt Ausgrenzungen und missgünstiger Blicke erfahren die Familien, dass sie nicht die Einzigen sind, die ihr Leben mit einem behinderten Kind teilen», erläutert die Expertin, «und sich allen Anforderungen stellen müssen, die sich daraus ergeben.» Allein schon dies führe zu einer Entspannung, die sich hilfreich auswirken könne – zumal in einer positiven Situation mit Unterstützung von Fachleuten.

Delfin-Therapie – was ist das genau?

Doch dieser subjektive Eindruck lasse sich mit wissenschaftlichen Methoden nicht objektivieren, so Jeltsch-Schudel: «Ernstzunehmende wissenschaftliche Studien sind kaum zu finden. Auch ist das Verständnis dessen, was eine Delfintherapie überhaupt ist, nirgends wirklich definiert.»

Davon ist auch Andrea Lanfranchi von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich, überzeugt: «Spezifische und nachhaltige Effekte tiergestützter Therapie konnten bis heute empirisch nicht nachgewiesen werden», sagt er. Es gebe zwar immer wieder Erlebnisberichte, die aufzeigen, dass sich autistische Menschen in Gegenwart von Delfinen offensichtlich wohl fühlen.

Doch eine Antwort auf die wichtige Frage, welche Wirkung die Therapien für das spätere Alltagsleben haben, könne diesen Berichten höchstens ansatzweise entnommen werden. «Das meiste bleibt nebulös», sagt Lanfranchi.

Ein kleines Mädchen und die Therapeutin ganz nah an einem Delfin. Die Betreuerin küstet die Schwanzflosse des Tieres.
Legende: Körperkontakt: Für das Mädchen kann das Berühren der Delfinflosse wohltuend sein – und ein Kontakt mit der Meereswelt. Keystone

Streicheln, Schwimmen und sogar Füttern

Weil es keine allgemein gültigen Normen für Delfintherapien gibt, sind die Angebote sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen aber, dass die Begegnung mit Delfinen als Anreiz dient. Wenn ein Patient eine bestimmte Aufgabe erfolgreich gelöst hat, erhält er als Belohnung eine Aktivität mit einem Delfin.

Solche Belohnungen können eine Kontaktaufnahme vom Beckenrand sein, Schwimmen mit Delfinen oder direkter Körperkontakt wie das Festhalten an der Rückenflosse, um durchs Wasser gezogen zu werden. Oder sogar Aktivitäten, bei denen der Teilnehmer durch Füttern oder andere Tätigkeiten den Eindruck erhält, dass er sich um die gefangenen Delfine «kümmert».

Und wie gehts den Delfinen?

Ethisch fragwürdig ist die Delfintherapie allerdings auch – aus Gründen des Tierschutzes und der artgerechten Tierhaltung. Vor allem bei Therapien mit Delfinen in Gefangenschaft: Schon der Fang der Delfine stellt einen massiven Stress für die Tiere dar. Er verläuft nicht selten tödlich; Studien berichten von einer sechsfach höheren Sterblichkeit während und sofort nach dem Fang.

Vereinzelt werden auch Therapien mit Delfinen in «Halbgefangenschaft» angeboten: in Buchten, die künstlich vom Meer abgetrennt sind. Oder sogar mit frei lebenden Delfinen. Doch sogar dann sind die Tiere permanenten Gefahren ausgesetzt. Dazu gehört das Verletzungsrisiko, Stress oder die Störung des natürlichen Verhaltens.

Delfinleben in Gefangenschaft

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Meist werden Delfine mit Vitaminenspritzen, Antibiotika, Fungiziden und Hormonen am Leben erhalten. Ihr Lebensraum –- im Meer hunderte Meter tief – wird eingeschränkt. Chlor im Wasser ist für die Delfinhaut schädlich. Studien zeigen, dass Substratböden mit Sand, Seegras oder Korallen für die Gesundheit wichtig sind. In Becken fehlen sie meist.

Zudem können Delfine sich anstecken. Die Meeressäuger sind besonders anfällig für Infektionen der oberen Atemwege, deren Keime auch vom Menschen übertragen werden können. Zwar ist diese Gefahr für Delfine in Gefangenschaft grösser, doch das Risiko besteht auch, wenn sie in freier Wildbahn mit infizierten Personen in Kontakt kommen.

Die Anbindung an den späteren Alltag fehlt

Bei diesen Nachteilen stellt sich Expertin Barbara Jeltsch-Schudel die Frage, ob andere therapeutische und pädagogische Familien-Angebote in einer entspannten Feriensituation und fachlicher Begleitung zu ähnlich begeisterten Berichten von Eltern führen können. Und die vielleicht «noch besser geeignet sind, das Gelernte nach den Ferien auch in den Alltag zu übertragen».

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