«Der Geruch von Formalin, mit dem die Körper konserviert waren, damit man überhaupt so lange an ihnen arbeiten konnte: An diesen Geruch musste man sich gewöhnen – sofern das überhaupt möglich ist.» Das sagt Rosa, sie ist 26, studiert Medizin und steht kurz vor dem Staatsexamen. Zurzeit lernt sie für die Prüfungen im September.
Man muss sich immer wieder vor Augen halten, dass diese Person ja tot ist und nicht einfach unter Narkose.
Im dritten Semester besuchte sie – gemäss Curriculum des Medizinstudiums – den sogenannten Präparierkurs im anatomischen Institut der Universität. Den Formalingeruch hat Rosa fünf Jahre später immer noch in der Nase. Wo sie damals an dem ihrer Gruppe zugeteilten Körper den ersten Schnitt setzte, weiss sie nicht mehr. «Es war gezwungenermassen die Haut», erzählt sie. «Das war sehr eigenartig, weil man sich immer wieder vor Augen halten musste, dass diese Person ja tot war und nicht wie im OP einfach unter Narkose.»
Als besonders «speziell» habe sie es empfunden, Schnitte im Gesicht zu setzen. «Hier muss man sehr nahe sein, um die Strukturen gut zu sehen und präzise zu schneiden.» Wenn man nicht geübt sei, sei das ziemlich herausfordernd.
Junge Menschen haben hier die Möglichkeit, sich die komplexe menschliche Anatomie direkt zu erarbeiten.
An der Universität Basel, wo Rosa studiert hat, unterrichtet den Präparierkurs seit vielen Jahren Magdalena Müller-Gerbl, Professorin für Makroskopische Anatomie. Dieser Kurs habe im Medizinstudium einen hohen Stellenwert: «Junge Menschen haben hier die Möglichkeit, sich die komplexe menschliche Anatomie direkt zu erarbeiten.»
Sezieren beziehungsweise «präparieren» bedeutet, mit dem Skalpell die Körperstrukturen schichtweise freizulegen: Haut und Muskeln, Bänder und Sehnen, Blutgefässe, Nerven, immer weiter in die Tiefe bis zu Knorpel und Knochen. «Dabei geht es nicht nur um Wissen», sagt die Professorin, «sondern darum, den menschlichen Körper mit allen Sinnen zu erfassen – auch emotional.»
Für viele Medizinstudierende ist «das erste Mal» im Präpariersaal auch die erste Konfrontation mit einem toten Menschen. Davor würden viele zurückschrecken, sagt Magdalena Müller-Gerbl. Wie sich das anfühlt, weiss sie aus ihrer eigenen, Jahrzehnte zurückliegenden Erfahrung: «Dieser erste Tag war für mich mit Ängsten verbunden, und ich fragte mich: Werde ich es schaffen, Schnitte in einen intakten Körper zu setzen, oder muss ich gar mein Medizinstudium abbrechen?»
Sie sei dann als eine der Letzten in den Saal und an den ihr zugeteilten Tisch getreten. «Ich habe bald gemerkt: Es ist machbar.»
Je mehr ich mich präparatorisch mit dem menschlichen Körper auseinandergesetzt habe, um so mehr habe ich gesehen, wie wunderbar er konstruiert ist.
Heute gilt Magdalena Müller-Gerbl als Meisterin ihres Fachs, die Handgriffe des Präparierens beherrscht sie formvollendet. Die Anatomie hat für sie nichts von der anfänglichen Faszination verloren, im Gegenteil: «Je mehr ich mich präparatorisch mit dem menschlichen Körper auseinandergesetzt habe, um so mehr habe ich gesehen, wie wunderbar er konstruiert ist.» Dies immer wieder zu erleben und teilweise noch Neues zu entdecken, begeistere sie noch heute.
Auch Rosa ist von der menschlichen Anatomie nachhaltig fasziniert. Die tote Haut mit dem Skalpell zu bearbeiten, fand sie damals zwar anspruchsvoll, doch Angst hatte sie keine – und kennt sie bis heute nicht. Nach dem Staatsexamen will sich die 26-Jährige auf Chirurgie spezialisieren.
Was ihr vom Präparierkurs vor allem geblieben sei: der Respekt für die Menschen, die sich der Wissenschaft über ihren Tod hinaus zur Verfügung stellten. «Sie liessen uns in ihr Innerstes vordringen – das ist ein grosses Geschenk.»