Zum Inhalt springen

Sprachforschung Wie der Hirsebrei unsere Sprache veränderte

Durch weichere Nahrung im Laufe der Zeit hat sich die Zahnstellung verschoben – damit wurden neue Laute möglich.

Wie haben unsere Vorfahren in der Steinzeit gesprochen? Schwierig zu sagen: Tonaufnahmen existieren erst seit dem späten 19. Jahrhundert.

Bisher wurde diese Frage meist mit Sprachvergleichen untersucht. Der Laut «w» kommt im heutigen Niederländisch, Deutsch und Englisch vor, deshalb kann man annehmen, dass es das «w» bereits im Germanischen gab, von dem die drei Sprachen abstammen.

Wie allerdings die alten Germanen den Laut «w» ausgesprochen haben, verraten solche Sprachanalysen nicht. «Um mehr herauszufinden, muss man über reine Sprachbetrachtungen hinausgehen», sagt der Linguistikprofessor Paul Widmer von der Universität Zürich. «Auch unser kulturelles Verhalten und unsere Biologie beeinflussen die Lautsprache.»

Interdisziplinäres Forschungsteam

Paul Widmer hat die Lautsprache unserer Vorfahren deshalb in einem interdisziplinären Team untersucht: mit anderen Linguisten, Computerexperten und Anthropologen von der Universität Zürich und Institutionen aus drei weiteren Ländern.

Das Team hat Labiodental-Laute untersucht, die man artikuliert, indem man die oberen Schneidezähne an die Unterlippe drückt, wie beim «w», «v» oder «f».

Diese Laute sind in den heutigen Sprachen weit verbreitet. Doch das war nicht immer so, zeigt die neue Studie von Widmer und seinen Kollegen.

Weichere Nahrung, andere Zahnstellung

Die «f»- und «w»-Laute sind erst spät aufgekommen in der Menschheitsgeschichte: als die steinzeitlichen Jäger und Sammler zu sesshaften Ackerbauern wurden. Damals begannen die Menschen, zunehmend verarbeitete und gekochte Speisen zu essen. Sie assen also weichere Nahrung.

«Wir gehen davon aus, dass dieser kulturelle Wandel – die Einführung der Landwirtschaft – zu einer Veränderung der Zahnstellung geführt hat. Die wiederum hat das Lautinventar beeinflusst», so Paul Widmer.

Kante auf Kante

Die veränderte Zahnstellung lässt sich an alten Gebissen erkennen. Im Gebiss der frühen Ackerbauern stehen die oberen Schneidezähne etwas vor den unteren Schneidezähnen – wie bei uns heute.

Beim Gebiss der Jäger und Sammler jedoch stossen die Schneidezähne zusammen: Kante auf Kante. So konnten die Steinzeitmenschen kräftiger zubeissen beim Fleischessen. Doch Wörter wie «Steven» seien mit dieser Zahnstellung schwierig auszusprechen, sagt Paul Widmer.

Mit Hilfe einer Computersimulation kann Widmer die Lautbildung der Steinzeitmenschen nachvollziehen: Etwa 30 Prozent mehr Muskelkraft braucht das «v» mit einem Jäger-und-Sammler-Gebiss.

Was die Computersimulationen auch zeigen: Im Ackerbauern-Gebiss berühren sich die Unterlippe und Schneidezähne beinahe von alleine. «Bei dieser Zahnstellung ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass man zufällig einen Labiodental-Laut produziert», sagt Widmer. «Diese zufälligen Laute können sich in der Sprechgemeinschaft verfestigen und verbreiten.»

Ernährung und Sprache

Die Forscher haben ausserdem Kulturen untersucht, die sich noch heute überwiegend vom Jagen und Sammeln ernähren.

Zum Beispiel Inuit, Aborigines oder indigene Kulturen in Amerika: Sie alle haben im erwachsenen Alter häufig einen Kante-auf-Kante-Biss. Paul Widmer: «In der Tat haben ihre Sprachen auch signifikant weniger Labiodental-Laute.»

Auch wenn wir nie werden hören können, wie unsere Vorfahren einst gesprochen haben: Ihre Lautsprache ist – mit den neuen Möglichkeiten in der Sprachforschung – aktueller denn je.

Meistgelesene Artikel